Klänge einer fernen Welt: Das Australian Art Orchestra zu Gast in Berlin

Australian Art Orchestra / Daniel Wilfred/Foto @ Peter Adamik

Mythen, Träume, Erdverbundenheit – mit einem Konzertprogramm der besonderen Art unter dem Titel „Hand to Earth“ feiert das Australian Art Orchestra sein Debüt im Pierre Boulez Saal. Das Kollaborationsprojekt beleuchtet Berührungspunkte zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Kulturen und entwickelt daraus neue Formen. Im Mittelpunkt des Abends: Jahrtausendealte Liederzyklen der australischen indigenen Bevölkerung. (Besuchtes Konzert am 9. Juni 2022)

 

 

Aufbrandende Gischt, in der Trockenheit verebbende Flussläufe, im Nichts verhallende Rufe von Vögeln, unendliche Weiten – mit ihren farbenreichen Klängen zeichnen die Musiker:innen des Australian Art Orchestra lebhafte und anschauliche Bilder vor den Augen ihres Publikums. Mal schrill, mal sanft klingt es durch Berlins neuesten und im Vergleich zu anderen Konzerten der vergangenen Monate erstaunlich gut besetzten Konzertsaal. Was das australische Orchester an diesem Abend auf die Bühne zaubert ist faszinierend und herausfordernd zugleich.

Australian Art Orchestra / Sunny Kim/Foto @ Peter Adamik

Faszinierend, weil es so viele verschiedene Klangwelten vereint. Da sind die Gesänge des Aborigine-Sängers des Volkes der Yolngu Daniel Wilfred, vermischt mit den Didgeridoo-Klängen David Wilfreds und gesanglicher Unterstützung durch die Koreanerin Sunny Kim, James Morrison-hafte Trompetenintermezzi Peter Knights und Aviva Endean an verschiedenen Holzblasinstrumenten, deren Spiel an der Bassklarinette auch in die benachbarte Staatsoper passen würde. Die Interaktion der Musiker:innen in diesem kleinen Ensemble zu beobachten, ist eine wahre Freude. Sie spielen, sie improvisieren, sie enden ruckartig oder lassen verhallen. Gemeinsam schaffen sie so ein ungeheuer dichtes Klangbild, das manchmal für die Ohren zu einem herausfordernden Dickicht wird. Hier passiert vieles zur gleichen Zeit und es scheint unglaublich, welche Klangfarben-, formen und -bilder mithilfe so weniger Instrumente und elektronischer Unterstützung in den Raum gemalt werden können.

In verschiedenen Konstellationen spielen die Musiker:innen ein in diesen Breitengraden selten gehörtes und schwer zu beschreibendes aber in seinen Bann ziehendes Ganzes. Es ist Musik, die in kein Genre und keine Schublade passt. Dennoch ist sie unmittelbar und durchdringend, berührt ab dem ersten Ton. Im Mittelpunkt dabei: So genannte „Manikay“, jahrtausendealte Liederzyklen aus dem südöstlichen Arnhemland im Northern Territory des australischen Staates. Über Generationen von den Urahnen überliefert, formen und grenzen das das Gebiet der Yolngu ein, geben ihm seine Bezeichnungen. Traditionell – und auch an diesem Abend – begleitet von Bilma (Clapsticks) und Didgeridoo, werden die Lieder bei Zeremonien gesungen und enthalten das Wissen der Vorfahren, das für die Lebensweise der Yolngu wesentlich ist. Im Dialog mit den anderen Instrumenten wird Gesang zu einem geerdeten Partner, der nicht versucht hervorzustechen, sondern sich einfügt und erzählt, Wege eröffnet und in Wechselwirkung mit der Tradition und der Moderne tritt. Die Explosion experimenteller Improvisation der fünf Orchestermitglieder schafft fremdartige und ungewohnte Töne und Klänge, die in eine fremde Welt entführen.

Australian Art Orchestra / Foto @ Peter Adamik

Leicht neigt man als Zuhörer:in zu romantisieren. Sich hinzuträumen in die unendlichen Weiten des roten Kontinents. Scheinbar endlose Sonnenuntergänge inmitten zwitschernder Vögel irgendwo im Nirgendwo an einem Billabong. Über die Unmittelbarkeit des Gesangs, der – wie Sänger Daniel Wilfried sagt – mit dem Herzen gesungen wird, vergisst man schnell, dass es sich hierbei um die jahrtausendealten und immer weiter fortgeschriebenen Songs eines am schlimmsten von der Kolonisation betroffenen und unterdrückten Völker handelt. Das sie noch immer existieren, grenzt an ein Wunder. Bis in die 1960er Jahre galt die „White Australia“-Politik, eine oftmals gewaltsame Assimilationspolitik, die auch die Zwangsentführung von bis zu 30 Prozent aller Aborigines-Kinder aus ihren Familien beinhaltete und zu einer kulturellen Entwurzelung vieler Aborigines führte. Die Nachwirkung sind bis heute zu spüren. Dass ihre Lieder auf neue Weise in den Mittelpunkt gerückt werden, scheint längst überfällig. Denn die Musik der ältesten lebenden Zivilisation der Welt fasziniert. Sie wirkt unglaublich geerdet. Scheint aus dem Innersten zu kommen und entfaltet ihren ganz eigenen Sog mit fast hypnotisierender Wirkung. Sie ist Zehntausende von Jahren alt und zugleich ungeheuer aktuell. Im Zusammenspiel mit zeitgenössischer Klangkunst überwindet sie Zeit, Raum und Kulturen auf eine ganz neue Weise. Man würde sich freuen, mehr davon zu hören.

 

  • Rezension von Svenja Koch / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Pierre Boulez Saal/Berlin
  • Titelfoto: Australian Art Orchestra / Foto @ Peter Adamik
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