Die 120 Tage von Rom – „Tosca“ an der Bayerischen Staatsoper

Bayerische Staatsoper/TOSCA 2024/E. Buratto, C. Castronovo/ Foto: © Wilfried Hösl

Giacomo Puccinis Tosca ist eines dieser Werke, das ruhig in jeder Aufführung gleich aussehen darf. In Wien zum Beispiel hält sich Margarethe Wallmanns Inszenierung erfolgreich seit 1958 auf dem Spielplan, ohne etwas von ihrer emotionalen und imposanten Wirkung einzubüßen. In München zeigt Kornél Mundruczó nun, dass es auch anders geht: Seine Tosca überzeugt ohne historische Kostüme und Engelsburg, dafür mit detailreicher Personenführung und viel Emotion. (Besuchte Vorstellung v. 23. Mai 2024

 

Zugunsten einer größeren Dramatik ist in der Einleitung ein wenig geflunkert worden. Es gibt in Mundruczós Tosca historische Kostüme. Nur eben nicht die, die man in einer Aufführung von Puccinis Meisterwerk erwartet: Anstatt auf bodenlangen Roben und mit Orden dekorierten Uniformen setzen Mundruczó und seine Ausstatterin Monika Pormale auf Schlaghosen und Nadelstreifenanzüge. Diese Tosca spielt nicht im Sommer 1800, sondern im Jahr 1975. Der Grund für den Zeitsprung findet sich in Mundruczós Figurenkonzeption: Der Regisseur wollte insbesondere Cavaradossis Hintergründe besser verstehen, suchte nach Inspiration – und fand den italienischen Filmregisseur Pier Paolo Pasolini und dessen Film Saló, in Deutschland bekannt unter dem Titel Die 120 Tage von Sodom.

Pasolini und sein Schaffen dienen Mundruczó als Inspiration. Genaue Kenntnis über den Regisseur und seinen Film ist aber nicht erforderlich, um die Inszenierung zu verstehen. Die Informationen, die Mundruczó in einem im Programmheft abgedruckten Interview mit Dramaturg Malte Krasting gibt, reichen völlig aus, um sich auf den Abend einlassen zu können. Das ist auch gut so, denn vermutlich haben die wenigsten Menschen im Publikum Die 120 Tage von Sodom tatsächlich gesehen: Der Film stand in Deutschland bis 2022 auf dem Index.

Bayerische Staatsoper/TOSCA 2024/Foto: © Wilfried Hösl

Tosca hingegen gilt als Einsteigeroper und absoluter Klassiker. Fast jeder kennt dieses Werk. Das ist wohl ein Grund dafür, warum die Publikumsreaktionen auch in der zweiten Vorstellung verhalten ausfallen. In den Applaus nach dem ersten Akt mischen sich sogar ein paar Buhrufe, die nicht den herausragenden gesanglichen Leistungen der Sänger:innen auf der Bühne gewidmet sein dürften. Viel eher gelten die Missfallensbekundungen der Entscheidung Mundruczós, seine Inszenierung auf dem Filmset von Die 120 Tage von Sodom zu beginnen, inklusive des Auftritts mehrerer nackter Statistinnen noch bevor die Musik einsetzt.

Es ist schon sehr anders, was Mundruczó da macht. Zumindest optisch. Eigentlich hat die Inszenierung alles, was konventionelle Toscas auch haben. Zum Beispiel große Emotionen: Mundruczó zeigt das Liebespaar Tosca und Cavaradossi als zwei Menschen, die so sehr Künstler sind, dass sie in ihrer Liebe immer spielen, die dadurch nicht weniger ehrlich, aber sehr viel bühnenwirksamer wird. Ein fader Beigeschmack bleibt allerdings, denn Pier Paolo Pasolini, mit dem Mundruczó die Rolle des Cavaradossi überschreibt, lebte offen homosexuell. Ihm auf der Bühne eine heterosexuelle Beziehung anzudichten, die sogar im Mittelpunkt der erzählten Geschichte steht, ist doch etwas merkwürdig.

Dass Mundruczós Liebeskonzept trotzdem wirkt, liegt auch an den hervorragenden Hauptdarsteller:innen. Die Partie der Tosca singt Eleonora Buratto. Ein wenig undankbar ist ihre Aufgabe schon: Nicht nur ist die Tosca bei Mundruczó von Maria Callas inspiriert, der großen Tosca des 20. Jahrhunderts, die mit Pasolini die Verfilmung der Oper Medea drehte, sie springt auch für Anja Harteros ein, die eigentlich für die Partie der Tosca vorgesehen war. Zum Glück verlangt die Regie von Buratto aber nicht, die eine oder die andere Sängerin zu sein. Buratto darf die Rolle der Tosca ganz zu ihrer eigenen machen. Von Anfang überzeugt sie mit einer präsenten und durchdachten Darstellung. Auch vokal begeistert ihre Darbietung mit zarten, schönen Höhen und einer beeindruckenden tiefen Lage. Emotionaler Höhepunkt ihrer Darstellung ist das Ende vom Vissi d’arte, als Buratto sogar zugunsten des Schauspiels ganz leicht von der Partitur abweicht.

Bayerische Staatsoper/TOSCA 2024/C. Castronovo, E. Buratto/ Foto: © Wilfried Hösl

An ihrer Seite gibt Charles Castronovo sein Debüt als Cavaradossi. Er singt die Partie mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass man, wüsste man es nicht besser, nicht auf den Gedanken käme, dass er den Cavaradossi gerade zum ersten Mal gibt. In darstellerischer wie vokaler Hinsicht könnte der Cavaradossi eine neue Paraderolle für Castronovo werden. Vom ersten Takt an überzeugt er mit einem schönen dunklen, fast baritonalen Timbre. Die laute, kräftige Leidenschaft im ersten Akt gelingt ihm genauso souverän wie die sanfte Traurigkeit und die vorsichtige Hoffnung im dritten. Sein E lucevan le stelle rührt beinahe zu Tränen.

Bis auf den Beruf Cavaradossis verändern sich die Protagonisten nicht. Nur Tosca wird vielleicht ein bisschen weniger katholisch wie in anderen Inszenierungen: Dem ermordeten Scarpia erweist sie nicht mehr die letzte Ehre. Und doch ist die Religion in Mundruczós Inszenierung Thema: Der Mesner, wunderbar mürrisch gespielt und gesungen von Martin Snell, der wahrscheinlich als ein Regieassistent auf Cavaradossis Filmset tätig ist, wirft der Madonnenstatue einen Bademantel übers Gesicht, damit sie die nackten Frauen nicht sehen muss.

Neu ist in Mundruczós Inszenierung vor allem das Setting, was bei einer Oper wie Tosca fast schon einem revolutionären Eingriff gleichkommt. Durch den Bezug auf Pasolini gelingt es der Regie aber auch, neue Schwerpunkte herauszuarbeiten. Vor allem der Sadismus und die Grausamkeit Scarpias und seiner Schergen kommt bei ihm besonders deutlich zur Geltung. Als Scarpia im ersten Akt das Filmset stürmt, macht er genau da weiter, vor Cavaradossi-Pasolini aufgehört hat – nur, dass die Gewalt bei ihm nicht gespielt ist. Die Parallelen zwischen Die 120 Tage und Sodom und Scarpia werden in der Inszenierung vor allem dadurch deutlich, dass Scarpias reale Gewalt und deren Folgen, die Folter und Ermordung Cavaradossis genauso wie der Suizid Toscas, durchgehend mit den gleichen künstlerischen Mitteln dargestellt werden wie die inszenierte Gewalt im Film Cavaradossis: Vor allem mit sehr viel roter Farbe auf weißem Hintergrund.

Die meiste Zeit funktioniert dieses Konzept. Mundruczós Tosca ist durchweg fesselnd und emotional. Nur die Folterszene verliert an Spannung. Eigentlich wird Cavaradossi im Nebenzimmer gefoltert, sodass Tosca, die von Scarpia verhört wird, nur seine Schmerzensschreie hört. Mundruczó zeigt die Folter aufgrund seines Fokus auf körperlicher Gewalt auf der Bühne. Doch nicht nur ist eine Folter, die man sehen kann, sehr viel weniger eindrucksvoll als eine, die man nur hört – das Unsichtbare, Unkonkrete bietet hier oft mehr Möglichkeiten als das, was ein Tenor auf der Bühne mit sich machen lässt, zwei sichtbare Folterszenen sind auch eine zu viel: Die Wirkung der psychologischen Folter Toscas durch Scarpia ein Stockwerk weiter oben verpufft beinahe völlig.

Bayerische Staatsoper/TOSCA 2024/L. Térzier, E. Buratto/ Foto: © Wilfried Hösl

Das ist besonders schade, weil die Szene zwischen Scarpia und Tosca besonders eindrucksvoll gespielt ist. Insbesondere Ludovic Tézier blüht hier auf, nachdem ihm im ersten Akt noch ein wenig der für einen Scarpia notwenigen stimmlichen und darstellerischen Imposanz gefehlt hat. Jetzt, im weniger pompösen, viel intimeren zweiten Akt, kann er sich ganz entfalten und einen Scarpia spielen, der auf Gänsehaut auslösende Art schmierig ist, und der auf eine grausame Art in seinem Handeln eine gewisse Routine entwickelt zu haben scheint. Dass er die tatsächlich hat, wird am Ende des Aktes deutlich: Als Tosca nach der Ermordung Scarpias in ihrem weißen Unterkleid mit dem Blut darauf langsam zur Rampe geht, treten einige Statistinnen in identischen Unterkleidern zu ihr: Es sind andere Opfer Scarpias, die ihn genauso hätten ermorden können wie Tosca.

Wenn man sich darauf einlässt, dass die Tosca genauso interpretiert und neu kontextualisiert werden kann, wie andere Opern auch, überzeugt Mundruczós Inszenierung. Wer aber lieber von den alten Inszenierungen schwärmt, dem bleibt noch die Musik. Und die ist großartig. Andrea Battistoni dirigiert das Bayerische Staatsorchester, ist dabei durchaus konservativer als Mundruczó, greift aber gelegentlich auf unkonventionelle Tempi zurück. Schon die drei Anfangsakkorde sind sehr viel getragener als auf den meisten Aufnahmen und gewinnen dadurch an Intensität. Die Auswahl der Tempi hat allerdings auch zur Folge, dass Orchester und Sänger:innen nicht immer ganz aufeinander abgestimmt sind.

Das betrifft aber nur wenige Stellen. Den größten Teil des Abends läuft alles. Unter den Sänger:innen ist an diesem Abend vor allem Tansel Akzeybek hervorzuheben, der mit strahlenden, bisweilen etwas scharfen Tenor, einen überraschend eindringlichen Spoletta singt. Milan Siljanov überzeugt als Angelotti, Christian Rieger ist ein sehr guter Sciarrone und die Rolle des Gefängniswärters ist mit Paweł Horodyski aus dem Opernstudio der Bayerischen Staatsoper gut besetzt. Der Hirte im dritten Akt wird von einem Solisten des Tölzer Knabenchores äußert souverän gesungen. In der neuen Münchner Tosca gibt es nicht nur viel Überraschendes zu sehen, sondern auch sehr viel Großartiges zu hören.

 

  • Rezension von Adele Bernhard / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Bayerische Staatsoper / Stückeseite
  • Titelfoto: Bayerische Staatsoper/TOSCA 2024/C. Castronovo, E. Buratto/ Foto: © Wilfried Hösl
Teile diesen Beitrag:

Ein Gedanke zu „Die 120 Tage von Rom – „Tosca“ an der Bayerischen Staatsoper

  1. Ich fand die Inszenierung und die musikalische Leistung sowohl von den Sängern und vom Orchester absolut überwältigend!
    Diese Tosca hat mich weit mehr erschüttert als einige der konventionellen Inszenierungen, die ich bisher gesehen habe.
    Die schlechten Kritiken, die diese Produktion nach der Premiere bekommen hat, waren haarsträubend daneben!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert