
Jazziges, Repertoireleichiges und Urgewaltiges mit den Berliner Philharmonikern: Zum Ende der Saison rücken sie mit ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko, Konzertmeister Noah Bendix-Balgley als Solisten, Sopranistin Lise Davidsen und Bariton Christian Gerhaher lange vergessene jüdische Komponisten in den Mittelpunkt. Auf dem Konzertprogramm: Erwin Schulhoff, Leone Sinigaglia und Alexander Zemlinsky. (Besuchtes Konzert am 11. Juni 2022)
Wie politisch sollte die Kunst sein? Diese Frage wird gerade in diesen Tagen immer häufiger diskutiert. Die Berliner Philharmoniker finden darauf in dieser Saison ihre eigene Antwort und stellten sie unter den Schwerpunkt einer verlorenen Generation an Komponisten, die in der NS-Zeit verfolgt, vertrieben oder ermordet wurden. Ein Zeichen gegen Hass und Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus, wie Chefdirigent Kirill Petrenko zu Beginn der Saison sagte. Konzerte mit Musik jüdischer Komponist:innen sind im Jahr 2022 vielleicht nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches mehr, aber für große Symphonieorchester wie die Berliner Philharmoniker, die darüber hinaus lange mit ihrer Vergangenheit als Reichsorchester haderten, doch etwas Besonderes. Während an vielen Stellen derzeit über leere Konzert- und Opernhäuser gesprochen wird, ist die Philharmonie für dieses Konzert mit Stücken abseits der großen Kassenschlager am Samstagabend fast ausverkauft.
Als erstes auf dem Programm steht die Symphonie Nr. 2 von Erwin Schulhoff. 1894 in Prag geboren, gilt er als pianistisches Wunderkind und findet später in zahlreichen musikalischen Richtungen von – irgendwie muss das Geld ja verdient werden – Schlager über Vierteltonmusik bis zur Vertonung des kommunistischen Manifests ein Zuhause. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch in die Sowjetunion, stirbt er 1942 während seiner Internierung auf der Wülzburg im bayerischen Weißenburg. Schulhoffs zweite Symphonie, für den Rundfunk und die damalige Aufnahmetechnik entsprechend schlank komponiert, ist genauso ein Blick in die Vergangenheit wie in die Zukunft. Rangierend zwischen mozartinischer Eleganz und jazzigen Saxofon-, Trompeten- und Banjoklängen, ist sie ein Fest für die philharmonischen Bläsersolisten. Während in den ersten zwei Sätzen Fagotte, Oboen, Flöten, Klarinetten und Trompete über feingezeichneten Bläsern brillieren, stehen im „Scherzo alla Jazz“ unter anderem Saxofon und Banjo im Mittelpunkt. Die ungewöhnlichen Klänge dieses dritten Satz scheint den Philharmonikern – nach dem Lächeln auf ihren Gesichtern zu urteilen – besonders Spaß zu machen. Im Finale, das zum neo-klassistischen Ausgangspunkt der Symphonie zurückkehrt, entlockt Petrenko seinen Philharmonikern feine Steigerungen.

Diese Feinzeichnungen stehen auch im Fokus der Romanze für Violine und Orchester sowie der Rapsodia piemontese für Violine und Orchester des wahrscheinlich unbekanntesten Komponisten des Abends, Leone Sinigaglia. Dabei ist die Rapsodia piemontese des italienisch-jüdischen Komponisten, der 1944 bei seiner Verhaftung durch die SS starb, eine echte Repertoireleiche der Berliner Philharmoniker. Erst- und letztmalig wurde sie gespielt im Jahre 1907. Begonnen wird jedoch mit der Romanze des spätromantischen Komponisten. Während andere Orchester Starvirtuosen für solche Ereignisse einladen, wird bei den Philharmonikern der Solist aus den eigenen Reihen zum Ereignis. Honigsüß und voll aber niemals klebrig klingt das Stück gespielt von Noah Bendix-Balgley, seines Zeichens Erster Konzertmeister. Vom ersten Ton an merkt man die große Vertrautheit zwischen dem Solisten, Dirigenten und Orchester. Was schnell schmalzig und kitschig klingen kann, ist hier schwebend und fein. Ebenso ist es bei der Rapsodia piemontese, die musikalisch auch die Herb- und Schroffheit der Landschaft widerspiegelt. Förmlich hört man die Weite der Berge und die plätschernden Bäche. Ein schnelles und virtuoses Stück, das Bendix-Balgley mit großer technischer Finesse meistert und in dem Petrenko sein Dirigat im Vertrauen auf Orchester und Solisten in weiten Teilen stark zurücknimmt. Am Ende wird es den lautesten Applaus des Abends erhalten. Als kleine Zugabe spielt Bendix-Balgley eine andere Art vergessener jüdischer Musik, ein Klezmer-Stück für Geige.
Schon die ersten Töne nach der Pause verheißen großes Drama. Dem erfrischenden und beschwingtem ersten Teil folgt schwere Kost. Emotional, opulent und komplex – zum Abschluss des Abends steht Alexander Zemlinskys viel zu selten gespielte Lyrische Symphonie auf dem Programm. Sie wird zu einer Symphonie der Gegensätze. Vermutlich erstmals von den Berliner Philharmonikern 1981 und somit rund 40 Jahre nach dem Tod des österreichischen Komponisten im amerikanischen Exil aufgeführt, vereint sie Urgewalten und schwelgerische Schönheit ebenso wie Trostlosigkeit bis hin zur Nüchternheit. Kirill Petrenko und sein Orchester gestalten das Stück atmosphärisch dicht mit vielen Schattierungen, Farbwechseln und großer dynamischer Bandbreite. Mal zum Verhauchen leise, im nächsten Moment in einer Lautstärke, die in einen glauben lassen, dass nicht nur Rockkonzerte in Berlin Erdbeben auslösen können. Die Berliner Philharmoniker zeigen Zemlinsky mit Kanten und Ecken in seiner ganzen Schroffheit. Das ist aufwühlend und faszinierend zugleich.

Ihnen zur Seite stehen an diesem Abend Lise Davidsen und Christian Gerhaher als Gesangssolisten, die ihre Partien ganz unterschiedlich gestalten. Lise Davidsen malt mit ihrem glänzenden Sopran und zahlreichen Nuancen fließende emotionsgeladene Bilder. Für ihre große und üppige Stimme bekannt, begeistert sie vor allem in den leisen Momenten. Unglaublich zart und dennoch voll klingt ihr Piano im Dialog mit der Solovioline im vierten Teil der Lyrischen Symphonie. Gerhaher legt seinen Gesang liedhafter, kantiger und sehr prononciert an. Das ist eine ganze andere Art der Interpretation, die aber auf ihre eigene Weise genauso expressiv ist.
Das Finale schließlich zeigt die ganze Melancholie und Opulenz der Komposition Zemlinskys nach Gedichten des indischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore. Petrenko zeichnet fein und durchdacht, Kitsch findet hier keinen Platz. Scheinbar ewig verhallen die letzten Töne im philharmonischen Weinberg. Das alles ist in seinen Einzelteilen großartig, doch der allerletzte Funke will nicht überspringen. So ist auch der Applaus an diesem Abend für Petrenko-Verhältnisse eher zurückhaltend. Dennoch bleibt zu hoffen, dass die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent sich nicht entmutigen lassen und ihren Weg, den Kanon mit bisher wenig oder gar nicht aufgeführten Werken zu erweitern, auch in Zukunft weiter beschreiten werden. Es gibt vieles zu entdecken.
- Rezension von Svenja Koch / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Berliner Philharmoniker
- Titelfoto: Berliner Philharmoniker, Berlin, 9.6.2022/Foto: Stefan Rabold