Zum Jahreswechsel in Leipzig: Beethovens 9. Symphonie

Gewandhausorchester/Foto: © Tom Thiele (2021)

Das Gewandhausorchester führte die erste Silvesteraufführung von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie 1918 bei der Friedens- und Freiheitsfeier des Arbeiterbildungsinstituts auf. Aufführungen dieser Symphonie zum Jahreswechsel sind inzwischen zu einer Tradition geworden. Am 6. März 1826 spielte das Gewandhausorchester die Symphonie, weniger als zwei Jahre nach der Wiener Erstaufführung am 7. Mai 1824, als Beethoven noch lebte und das Werk noch nicht im Druck erschienen war. Für Das Opernmagazin habe ich die Aufführung im Gewandhaus anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Symphonie sowie der Vorstellung von Jordi Savall bei den Salzburger Festspielen im August schon rezensiert.

 

 

Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons’ Interpretation der Partitur am 31. Dezember 2024 war im Wesentlichen unverändert seit Mai, aber das bevorstehende neue Jahr bringt immer eine gewisse Atmosphäre mit sich, am deutlichsten im zweiten Satz, der von etwas mehr dramatischer Spannung profitierte. Nelsons hat eine weitere groß besetzte Aufführung geliefert, bei der ein volles Gewandhausorchester und drei Chöre (der Chor der Oper Leipzigder GewandhausChor und der GewandhausKinderchor) zum Einsatz gekommen sind.

Was an Nelsons Interpretation am meisten auffällt, ist die Ähnlichkeit mit derjenigen von Otto Klemperer aus dem Jahr 1957. Beide Dirigenten nahmen den Kopfsatz (Allegro ma non troppo, un poco maestoso) in einem besonders breiten Tempo (Nelsons hat fast 20 Minuten gebraucht, die längste Dauer, an die ich mich erinnern kann). Das entspannte Tempo hat einige Vorteile, vor allem, dass alle orchestralen Einzelheiten klar artikuliert werden, aber auch einige Nachteile, da etwas von der Dramatik geopfert wird. Der zweite Satz (Molto vivace – Presto) wurde jedoch in einem zügigen Tempo gespielt, das sich nicht sehr von den historisch informierten Aufführungen unterscheidet. Auch der dritte Satz (Adagio molto e cantabile – Andante moderato) verging in gemäßigtem Tempo, ähnlich wie in Klemperers Lesart, in der die langsamen Sätze in Beethovens Symphonien dazu tendierten, relativ zügig zu sein.

Die vier Solisten im Finale (Presto – Allegro assai) waren beeindruckend, vor allem der Bass („O Freunde, nicht diese Töne!“), der dem Choreingang vorausgeht. Ain Anger hat den Text ebenso kraftvoll wie väterlich subtil vorgetragen und damit gewährleistet, dass es sich um einen Aufruf zu einer aufrichtigen Huldigung der Liebe und der Einheit handelt. Eine weitere großartige Besetzung war Werner Güra, der mir als einer der hervorragendsten Interpreten von Schubert-Liedern für Tenorstimme bekannt ist. Güra hat seine Erfahrung als Liedsänger eingesetzt, um dem schwierigen Tenorsolo („Froh, wie seine Sonnen fliegen“) eine lyrische Qualität zu verleihen. Die Sopranistin Emily Magee und die Altistin Gerhild Romberger fügten sich nahtlos ein, ergänzten sich gegenseitig und den Chor.

Die Leistung des Gewandhausorchesters war wie immer hervorragend und ließ die interpretatorischen Ideen des Kapellmeisters einleuchtend wirken. Der Beifallssturm im ausverkauften Leipziger Gewandhaus zeigte, wie bewegend diese Symphonie sein kann, vor allem, wenn sie am Silvesterabend aufgeführt wird. Diese rund 75-minütige Darbietung war fabelhaft und spannend, auch wenn ihr ein etwas schnelleres Tempo im ersten Satz nicht geschadet hätte. Seit ich Nelsons diese Symphonie zum ersten Mal im Dezember 2016 dirigieren hörte, scheint seine Interpretation gefestigt und gereift zu sein. Seine Herangehensweise ist zwar nicht viel anders als vor acht Jahren, aber sie ist überzeugender geworden und hat ein individuelleres Profil bekommen.

 

  • Rezension von Dr. Daniel Floyd / Red. DAS OPERNMAGZIN
  • Gewandhausorchester
  • Titelfoto: Gewandhaus zu Leipzig/Foto: © René Jungnickel, 2015
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