Ludwig van Beethovens 9. Symphonie in d-Moll, op. 125 wurde am 7. Mai 1824 in einem Konzert des Komponisten im Theater am Kärntnertor in Wien uraufgeführt. Das Konzert begann mit der Ouvertüre zu „Die Weihe des Hauses“ op. 124, gefolgt von Auszügen aus der Missa solemnis op. 123. Wahrscheinlich gab es eine Pause, bevor die 9. Sinfonie zum ersten Mal zu hören war. Augenzeugenberichten zufolge stand Beethoven, der völlig taub war, während des letzten Satzes mit dem Rücken zum Publikum. Michael Umlauf dirigierte die Aufführung.(Rezension der besuchten Aufführung vom 7. Mai 2024)
Ein Merkmal, der diese Sinfonie von ihren Vorgängern unterscheidet, ist der vierte Satz, in dem ein Sängerquartett (Sopran, Alt, Tenor, Bariton) und ein vierstimmiger Chor Beethovens Bearbeitung einiger Strophen aus Friedrich Schillers Gedicht „An die Freude“ vortragen. Das Instrumentarium umfasst Piccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Trommel, Becken, Triangel, Streicher 1. Violine, 2. Violine, Bratsche, Violoncello und Kontrabass.
In der Aufführung, die ich am 7. Mai 2024 im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses gesehen habe, leitete der Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons das Gewandhausorchester in einer rund 70-minütigen Aufführung. Während Nelsons’ Vorgänger als Gewandhauskapellmeister, Riccardo Chailly, sich eng an Beethovens Metronomangaben hielt und so die gesamte Sinfonie in etwas mehr als einer Stunde aufführte, wählt Nelsons breitere Tempi, die denen von Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler und Otto Klemperer ähneln. In Bezug auf Phrasierung und Dynamik verfolgt Nelsons seinen eigenen Ansatz, der weniger dramatisch ist als der der zuvor erwähnten Legenden und eher lyrisch. Nelsons scheint nicht von der historischen Aufführungspraxis beeinflusst worden zu sein, sondern eher von seiner eigenen Interpretation der Partitur, und er nutzt die reiche orchestrale Palette, die das Gewandhausorchester bietet.
Beethovens 9. Sinfonie unter Nelsons steht in scharfem Kontrast zu den Interpretationen, die ich unter Chailly in der Silvester-Nächte 2012/13 und 2013/14 gehört habe. Bei Chailly setzten die Streicher das Vibrato sparsam ein, während bei Nelsons der Klang eines modernen Symphonieorchesters vorherrscht. Der erste Satz („Allegro ma non troppo, un poco maestoso“) wird von Nelsons in einem gemäßigten Tempo vorgetragen, wobei er einen vollen, kultivierten Orchesterklang erzeugt. Chailly war schneller und das Orchester erzeugte für ihn einen schlankeren Klang. Nelsons schafft gleich zu Beginn eine Spannung, die er mit Hilfe dynamischer Kontraste aufrechterhält. Der zweite Satz („Molto vivace – Presto“) wird von Nelsons dynamisch und rhythmisch straff mit einem ausgewogenen Trio vorgetragen. Unter Nelsons’ Leitung zeigt sich das Gewandhausorchester im sehr breit angelegten und feierlich interpretierten dritten Satz („Adagio molto e cantabile – Andante moderato“) in souveräner Form und behandelt die Abschnitte des „Adagio molto e cantabile“ weiträumig, während die Folgen des „Andante moderato“ fließend sind.
Die Cello-/Bass-Rezitativ Passagen zu Beginn des Finales („Presto – Allegro assai – Andante maestoso – Allegro energico, sempre ben marcato – Allegro ma non tanto – Prestissimo“) wurden von Chailly zügig gespielt, während Nelsons sie langsamer ansetzte und dadurch die Rhetorik betonte. Wenn das Hauptthema zum ersten Mal auf den Celli und Bässen erscheint, ist die Interpretation von Nelsons sehr leise. Nelsons entfaltet die Melodie der „Ode an die Freude“ und steigert sich zu einem edlen Satz für das gesamte Orchester. Der Bassbariton Bryn Terfel ist in seinem Solo eindrucksvoll, und es gelingt ihm, den Text klar und mit großer Kraft zu artikulieren. Beim strapaziösen Tenorsolo „Froh, wie seine Sonnen fliegen“ hat Nelsons den Luxus, dass Piotr Beczala die Gesangslinie mit Souveränität und Überzeugung in dem vom Dirigenten vorgegebenen gleichmäßigen Tempo vorbringt. Insgesamt ist Nelsons’ Vokalquartett überzeugend, vor allem in seinem letzten Beitrag kurz vor der Prestissimo-Coda, wo die langsam ineinander verschlungenen Linien ausbalanciert sind und Golda Schultz’ strahlender Sopran das Quartett krönt. Patricia Nolz holt das Beste aus der Altpartie heraus, die mit den anderen Solisten und dem Chor zusammenfällt. Der MDR-Rundfunkchor, der GewandhausChor und der GewandhausKinderchor ließen Beethovens jubelndes Finale sehr imposant erklingen.
Der Beifallssturm, der durch das ausverkaufte Gewandhaus schallte, war der Beweis für den Erfolg der 200-jährigen Jubiläumsfeierlichkeiten für Beethovens 9. Sinfonie in Leipzig. Da es sich um ein so historisches Ereignis handelte, hätte ich mir gewünscht, dass das Konzertprogramm um die am Anfang dieser Rezension erwähnten zusätzlichen Werke erweitert worden wäre, die Beethoven vor der Sinfonie aufführte. Dieses erweiterte Programm würde der Neunten Symphonie, die heutzutage meist als einzelnes Konzertwerk gespielt wird, einen Kontext geben. Ansonsten war es eine denkwürdige Aufführung, die sich zwar von den derzeit oft bevorzugten schnellen, abgespeckten Aufführungen unterschied, aber wohl durchdacht und großartig gespielt war.
- Rezension von Dr. Daniel Floyd / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Gewandhausorchester
- Titelfoto: Gewandhausorchester/Konzert v. 7.5.2024/Foto: Konrad Stöhr