Auf der Suche nach dem Ewigen – Herbert Blomstedt und die Berliner Philharmoniker mit Mozart und Bruckner

Berliner Philharmoniker/ Herbert Blomstedt | Foto: Monika Rittershaus

Die Welt der klassischen Musik kreiste im Jahr 2024 um den Namen Anton Bruckner. Mit zahlreichen Konzerten feierten namhafte Dirigenten und Orchester den 200. Geburtstag des oberösterreichischen Komponisten, auch selten gespielte Werke, wie die sogenannte „0.“, kamen zur Aufführung, den verschiedenen Fassungen der Symphonien wurde Raum gegeben und besonders im lokalen Umfeld der Lebens- und Wirkungsstätten Bruckners gestalteten vielfältige Veranstaltungen das Jubiläum. Kurz vor Weihnachten widmete sich Herbert Blomstedt mit den Berliner Philharmonikern der neunten Symphonie des Komponisten und sorgte damit nicht nur für einen würdigen Abschluss des Bruckner-Jahres, sondern noch mehr als das für dessen musikalischen Höhepunkt, der gerade durch den Verzicht auf übertriebene Dramatik die den Menschen überschreitende und doch tief erfüllende Kraft der Musik spüren ließ. (Rezension des Konzertes v. 21.12.2024)

 

Die neunte könnte als herausforderndste, auch ungewöhnlichste Symphonie Anton Bruckners bezeichnet werden. Schon er selbst rang mit diesem Werk, arbeitete bis zu seinem Tod an dessen viertem Satz und musste es doch unvollendet der Welt überlassen. Die Klangsprache ist geprägt von penetranter Dissonanz, heftige Kontraste zwischen gespenstisch-schönen Streichermelodien und harten Akkorden, die im besten Sinne an die Grenze des Aushaltbaren führen, lassen die Symphonie zugleich das Herz zerreißen und dieses wieder zusammenfügen. Als Tonart wählte Bruckner d-Moll – eine Tonalität, die bereits in sich diese Spannung aus Schmerz und würdevoller Ruhe trägt und auch im ersten Teil des Konzerts mit Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 (KV 466) zu hören war. Doch diese Gemeinsamkeit der beiden Werke mag nur nebensächlich Grund für die Programmauswahl gewesen sein, vielmehr scheint jener im Zugang Herbert Blomstedts zu Bruckners Musik zu liegen, der diese beinahe spätklassisch interpretiert, dabei auf überbordende Dramatik verzichtet und so ihren zwar an einzelnen Aspekten festzumachenden, letztlich aber kaum zu beschreibenden, sondern vor allem zu fühlenden Kern enthüllt. Durch diese Einfachheit der Interpretation, die keinesfalls als Unterkomplexität oder Oberflächlichkeit missverstanden werden darf, kommt die Musik in einer Offenheit zu klingen, die mit ihrem Innersten konfrontieren und dieses je individuell empfinden lässt.

Berliner Philharmoniker/Leif Ove Andsnes | Foto: Monika Rittershaus

Es ist diese Art der Transparenz, die auch Mozarts Klavierkonzert verlangt, um seine Klarheit zu bewahren und gerade darin zu stärkstem Ausdruck zu gelangen. Diese einzufangen, beherrscht Leif Ove Andsnes zutiefst. Der norwegische Pianist interpretiert Mozart mit feinem Gespür für die nur vermeintlich leichte Musik und verzichtet auf alles Kaprizierte, Übertriebene. Es ist eine besondere Kunst, Emotionen nicht mit äußerer Dramatik, sondern durch feine Innerlichkeit zu zeigen, die mit ihrer hohen Empfindsamkeit für die Klangfarben und Nuancen des Stücks erst das wahre darin enthaltene Drama freizulegen vermag. So wird die Gestalt des Konzerts auf natürliche Weise offenbart und gestaltet, ohne sie zu überfrachten mit Verzierungen, übertriebener Dynamik oder allzu Pathetischem. Bei jedem Ton ist Andsnes anzumerken, wie sehr er das Werk durchdrungen hat, wie intensiv er präsent ist und mit welch großer Aufmerksamkeit er den Phrasen folgt, die Musik zwar tief verinnerlicht, aber doch offen für das, was in jedem Moment auch unerwartet neu entstehen kann. Dadurch wird Mozart zu einem bewegenden Ereignis, dem man sich nicht entziehen kann, aber nicht durch eine allzu aufdringliche Interpretation, sondern gerade mittels der Eröffnung eines Musikraums, in dem sich Klang und Emotion frei entfalten können. In diesem innerlichen, für das stets Größere offenen Raum trifft Andsnes auf Blomstedt und die Berliner Philharmoniker, die ebenso sensibel wie flexibel in einer wahren Einheit mit dem Solisten musizieren.

Wie stark diese Einheit auch zwischen den Musikerinnen und Musikern der Philharmoniker besteht, wurde im zweiten Teil des Konzerts mit Bruckners Neunter hör- und spürbar. Es gibt wohl kaum ein zweites Orchester, das in sich so dynamisch agiert und es vermag, aus dem musikalischen Gespür jedes Einzelnen zu einem flexiblen, stets akkuraten, aber doch für alle Regungen offen bleibenden Klang zu gelangen. An diesem Abend war dies besonders zu erleben und noch verstärkt durch das beeindruckende Zusammenwirken mit Herbert Blomstedt, der wahrlich ein Phänomen ist. Mit 97 Jahren scheint er die Musik Bruckners so tief durchdrungen und verinnerlicht zu haben wie kaum ein zweiter und doch weiß man, dass man dies von ihm auch in jedem anderen Lebensjahr bereits sagen konnte. Es ist zu spüren, wie genau er die Partitur kennt, wie sehr er in ihr fühlt und durch sie führt, und dies ist noch am Wenigsten dadurch zu erkennen, dass die physische Ausgabe auf seinem Pult während der gesamten Symphonie geschlossen blieb. Seine Hingabe an die Musik verfällt nie dem Selbstdarstellerischen, er wirkt, als verstünde er sich als Diener an dieser Kunst, der es auch nach Jahrzehnten noch als Geschenk erfährt, diese interpretieren und stets neu entdecken zu dürfen. Blomstedts Bruckner ist direkt und im Vergleich zu anderen Versionen beinahe reduziert, zumindest nie überfrachtet mit Gestaltung. Stattdessen legt er differenziert und gefühlvoll frei, was in der Musik selbst angelegt ist. Dadurch kommt erneut die wahre Dramatik ohne Dramatisierung zum Vorschein, die spannungsgeladene Symphonie erstrahlt in der emotionalen Vielfalt und Dichte, die sie beinhaltet und deren künstlicher Verstärkung es nicht bedarf. Blomstedts Zugang zu Bruckners Musik als weltlicher, nicht explizit katholischer, aber doch zutiefst transzendenter, die die Suche nach dem Ewigen, nach dem, das größer ist als der Mensch, worin es auch bestehen mag, in sich fasst, ist in jedem Ton zu spüren. Und es gelingt ihm, diese Transzendenz, einen weiten Blick in eben dieses Ewige zu eröffnen, ohne es festlegen oder einfangen zu wollen. Auch darin zeigen sich eine berührte wie berührende Innerlichkeit und gerade im Überweltlichen eine große Menschlichkeit. Die Symphonie konfrontiert den Menschen mit sich selbst, mit all seinen Abgründen und seiner Verzweiflung, wie sie etwa in den dissonanten Akkorden erklingen, aber auch seinen Sehnsüchten, der Ruhe und dem erfüllenden Aufgehobensein im Größeren, das nicht in der eigenen Macht liegt, wie die ruhigen, strahlenden Kantilenen fühlen lassen. All dies eröffnet Blomstedt, ohne Pathetik, aber auch ohne Beschönigung oder Abschwächung der manchmal kaum auszuhaltenden Gegensätze – der Musik wie der menschlichen Existenz –, sondern mit viel Gefühl und dem Mut, die Musik so wirken zu lassen, wie sie im Zusammenspiel von Komposition und momentärer Empfindung wirken mag. Auch dieser unmittelbar treffenden, gleichzeitig erschütternden wie auffangenden Interpretation kann man sich nicht entziehen, bis zum letzten, sanft verklingenden Ton wirkt sie wie ein Bann, der einen die daran anschließende minutenlange Stille, selbst zu einem Teil der Musik geworden, nicht nur aushalten, sondern als erfüllt erleben lässt. Es ist eine Ehre, durch diese Aufführung an Blomstedts Verständnis und mehr noch seiner Empfindung dieser Symphonie, aufgehend im Zusammenspiel mit den Berliner Philharmonikern, teilhaben zu dürfen. Wenn Bruckners Musik so gespielt wird, bewirkt sie das, was sie womöglich bewirken möchte oder zumindest kann: Sie wirft den Menschen, behutsam begleitet und doch schonungslos, auf sich selbst zurück, eröffnet ihm aber zugleich einen Blick in das Größere, Weitere, Ewige.

 

  • Rezension von Elena Deinhammer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Berliner Philharmoniker
  • Titelfoto: Berliner Philharmoniker/Leif Ove Andsnes, Herbert Blomstedt | Foto: Monika Rittershaus
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