Eine Sternstunde! – „Parsifal“ an der Oper Leipzig

Oper Leipzig/PARSIFAL/ Foto © Tom Schulze

Am 26. Juli 1882 fand die Uraufführung von Parsifal, einem dreiaktigen „Bühnenweihfestspiel“, das sich als Richard Wagners letztes musikdramatisches Werk herausstellte, im Bayreuther Festspielhaus statt. Weniger als ein Jahr später starb Wagner am 13. Februar 1883 im Palazzo Vendramin-Calergi in Venedig. Für die Zeit ihrer Entstehung und auch aus heutiger Sicht wirkt die Musik in dieser Oper sehr avantgardistisch und außerordentlich einzigartig in der Operngeschichte. Dieses Werk hat eine Reihe von modernen und postmodernen Musikern (u.a. Mitglieder der sogenannten zweiten Wiener Schule und Pierre Boulez) inspiriert, auch solche, die sich kaum für die Oper interessierten. (Rezension der Vorstellung v. 14. Juli 2022)

 

Die bedeutendste Quelle für das Libretto ist der Versroman Parzival von Wolfram von Eschenbach, der aus rund 25.000 gereimten Versen besteht und zwischen 1200 und 1210 geschrieben wurde. Obwohl Villa Rufolo bei Ravello der Ort ist, der Klingsors Zauberschloss inspirierte, ist eine weitere mögliche Quelle für diese Oper Christoph Willibald Glucks Oper Armide (1777), mit der Wagner sicherlich vertraut war. Philippe Quinaults Libretto, das bereits 1686 von Jean-Baptiste Lully vertont wurde, präsentiert die Titelfigur als Herrscherin eines Zauberschlosses mit schönen, verführerischen Frauen, die Kreuzritter von ihrer Mission abbringen. Dieses Szenario könnte Klingsors magisches Schloss in Akt 2 von Parsifal inspiriert haben, obwohl es wichtige Unterschiede zwischen Armide (Armida) und Klingsor gibt. Armide ist nicht unbedingt böse; sie will wohl ihre Kultur vor den christlichen Eindringlingen schützen. Außerdem scheint sie in Renaud (Rinaldo) verliebt zu sein und ist untröstlich, als er überredet wird, sie zu verlassen. Klingsor hingegen ist die seltsamste Figur, die Wagner je erfunden hat, ein abgewiesener aufstrebender Gralsritter, dessen einziger Lebenszweck darin besteht, den heiligen Gral zu entwenden.

Oper Leipzig/PARSIFAL/ Foto © Tom Schulze

Die Aufführung von Parsifal in der Oper Leipzig war eine gelungene, fesselnde Interpretation. Der Regisseur Roland Aeschlimann (Kostüme: Susanne Raschig) inszenierte die Handlung auf einer abgedunkelten Bühne hinter einer dünnen Leinwand, die das Geheimnisvolle und Spirituelle des Werks betonte, aber die Sicht auf das Geschehen auf der Bühne erschwerte. Einige Punkte sollten jedoch noch einmal überdacht oder geändert werden. Im ersten Akt, zum Beispiel, nachdem Parsifal einen Schwan getötet hat, weist Gurnemanz ihn zurecht, indem er ihm die Folgen seiner Tat in einem Buch zeigt, obwohl der gesungene Text eindeutig darauf hinweist, dass er Parsifal die Leiche des tatsächlich ermordeten Schwans zeigt. Die offensichtlichste Veränderung der Geschichte fand am Ende der Oper statt. In dieser Inszenierung stirbt Kundry nicht, und Amfortas gibt seine Autorität nicht unmissverständlich an Parsifal ab. Stattdessen gibt Parsifal den heiligen Speer in die Obhut von Amfortas zurück und hält sich im Hintergrund. Kundry und Amfortas versöhnen sich als Liebende: Der Vorhang fällt und die Musik verklingt, während sie sich umarmen. Das ist sehr reizvoll, aber es steht im Gegensatz zum Libretto.

Die Sängerinnen und Sänger waren durchweg hervorragend und gehören zum Besten, was man heute in diesem Repertoire hören kann. Vor allem Rene Papé hob den Charakter des Gurnemanz weit über den sturen Erzähler hinaus, zu dem er in den Händen weniger guter Interpreten der Rolle werden kann. Seine dunkle, reiche Stimme, Diktion und sein Charisma verliehen der Figur ein Maß an Menschlichkeit und sogar Sympathie, das allzu oft fehlt, vor allem in den langen Erzählungen des ersten Akts. Papé ist in dieser Rolle heute unantastbar; die einzigen anderen auf Tonträgern dokumentierten Interpreten, die sein Niveau erreichen, sind Gesangslegenden wie Ludwig Weber, Hans Hotter und Gottlob Frick.

Elena Pankratova stellte Kundry nicht als böswillige Sünderin dar, die anderen Schaden zufügen will, sondern, vor allem im ersten Akt, als mütterliche Figur, die helfen will, die Wunde zu heilen, die Klingsor Amfortas durch ihre widerwillige Mitwirkung zugefügt hat. Kundry wurde dazu gezwungen, Amfortas zu verführen, sodass Klingsor, den heiligen Speer stehlen und ihn damit verletzen konnte. Pankratovas Darstellung hat mich auf eine Einzelheit des Textes aufmerksam gemacht, dass ich vorher nicht bedacht hatte. Kurz nach Kundrys Erscheinen gibt sie Amfortas einen Befehl, den dieser befolgt: „Fort, fort! Ins Bad!“. Sie will Amfortas helfen, aber ihre Wortwahl und ihr Tonfall ähneln dem einer Mutter, die mit ihrem Kind spricht. Dies wirft die Frage auf, wer in diesem Reich, in dem Amfortas offiziell der König ist, wirklich die Führung hat. Sie überzeugt auf ganzer Linie in ihrer Interpretation der Rolle, die Kundrys Gefühl der Fürsorge und ihren Wunsch, der Strafe, Klingsor gegen ihren eigenen Willen dienen zu müssen, zu entkommen, hervorhebt. Bei ihrer Begegnung mit Parsifal im zweiten Akt scheint es ihr weniger darum zu gehen, Parsifal zu verführen, als vielmehr darum, sich von dem Fluch zu befreien und ihn vor Klingsor zu bewahren. Pankratova verfügt über eine warme, dunkel timbrierte Mezzosopranstimme, mit der sie Kundry als eine traurige Frau darstellt, die in einem früheren Leben einen Fehler begangen hat und nun bestraft wird.

Andreas Schager bewies als Parsifal Naivität im ersten Akt, Neugier und entschlossenen Widerstand im zweiten und Weisheit im letzten Akt. Schager hat einen tiefen Tenor, der vor allem im dritten Akt zur Geltung kommt, wenn Parsifal mit einer hart erkämpften Reife in das Reich des Grals zurückkehrt. Während der gesamten Oper vermittelt er das Gefühl des Mitleids, das Parsifal für Amfortas empfindet, obwohl die beiden Männer sich nicht wirklich kennen. Schager erweckt auch den Eindruck, dass Parsifal etwas mit Rinaldo in Torquato Tassos Epos Das befreite Jerusalem (La Gerusalemme liberata, 1581) gemeinsam hat: beide Charaktere würden gerne bei ihren jeweiligen Zauberinnen (Rinaldo mit Armida, Parsifal mit Kundry) bleiben, werden aber von ihrem Pflichtgefühl weggezogen.

Oper Leipzig/Opernhaus/ © Kirsten Nijhof

Falk Struckmann stellte Klingsor als einen ungewöhnlich starke Figur dar, der von seiner Mission überzeugt ist. In dieser Interpretation ähnelt Klingsors Einstellung der des Satans in John Miltons Paradise Lost (Das verlorene Paradies, 1667), der nach seiner Rebellion gegen Gott aus dem Himmel vertrieben wurde. Klingsor wurde ebenfalls von Titurel verstoßen und beschließt, sein eigenes elendes Königreich in der Wüste zu errichten, ein magisches Schloss mit teuflisch schönen Frauen, die die Gralsritter von ihrer Mission ablenken. Wie Satan ist Klingsors einziges Ziel, diejenigen zu vernichten, die ihn abgelehnt haben; beide sind die Herren ihrer jeweiligen miserablen Reiche. Laut Satan: „Better to reign in Hell, than serve in Heav’n“ [„Lieber in der Hölle zu herrschen, als im Himmel zu dienen“] (Paradise Lost, Buch 1, Zeile 263). Aufgrund seiner stimmlichen Kraft und Vitalität erweckt Struckmann den Eindruck, dass Klingsor eine Art Satan ist, der stolz darauf ist, ein Reich zu regieren, egal wie schrecklich es ist. Struckmanns Klingsor ist eine glaubwürdige Bedrohung für die Gralsritter, nicht nur ein selbstkastrierter Mann, der verzweifelt versucht, den Heiligen Gral zu erlangen.

Dar Bariton Mathias Hausmann stellte Amfortas als sympathischen gefallenen Gralshüter dar, der zur Strafe für einen Moment der Schwäche, als er die Wunde „die nie sich schließen will“ von Klingsor mit dem gestohlenen heiligen Speer erlitt, immer wieder Schmerzen erleidet. Hausmann verleiht Amfortas ein Gefühl der Entschlossenheit, seine unendlichen Qualen zu beenden. Sein Appell an die Ritter, ihn zu töten, unmittelbar vor Parsifals Auftritt im dritten Akt, klang besonders ergreifend und authentisch statt nur erbärmlich. Die kurze Rolle des Titurel, des Vaters von Amfortas, sang Randall Jakobsh mit der nötigen Autorität.

Auch die kleinen Rollen waren gut besetzt: den Gralsrittern (Franz Gürtelschmied und Randall Jakobsh), die Knappen (Julia Sophie Wagner, Sandra Maxheimer, Patrick Vogel und Dan Karlström), die Altsolistin (Sandra Janke) und die Blumenmädchen (Olga Jelínková, Magdalena Hinterdobler, Sandra Maxheimer, Julia Sophie Wagner, Christiane Döcker und Sandra Janke).

Das Gewandhausorchester dirigiert von Ulf Schirmer spielte mit Präzision und Leidenschaft, vor allem mit einem gewissen Maß an Wärme, Spiritualität und gegebenenfalls dramatischer Kraft. Mit diesem Auftritt verabschiedete Schirmer sich von Leipzig, Wagners Geburtsstadt. Es bleibt zu hoffen, dass sein Nachfolger ein hohes Niveau der Wagnerschen Aufführung beibehalten wird.

 

  • Rezension von Dr. Daniel Floyd / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Leipzig / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Leipzig/PARSIFAL/ Foto © Tom Schulze
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