Ein Ring-Zyklus voll verpasster Chancen: Dmitri Tcherniakovs ernüchternde „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin

Staatsoper Berlin/Götterdämmerung/Andreas Schager, Anja Kampe/Foto: Monika Rittershaus

Der Regisseur Dmitri Tcherniakov sollte sich erst am vierten Abend seiner Neuinszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, also nach der „Götterdämmerung“, den Publikumsreaktionen stellen. Bislang enthielt sich unser Kritiker daher auch einer Kommentierung des szenischen Geschehens im Premieren-Zyklus an der Staatsoper Berlin. Bedauerlicherweise fällt Phillip Richter das gleiche Urteil wie auch der Großteil des desillusionierten, buhenden Publikums: Dieser Ring-Zyklus bot unzählige Möglichkeiten für richtig spannendes Musiktheater – leider wusste Dmitri Tcherniakov keine einzige davon zu nutzen. (Premiere vom 09.10.2022)

 

Intendant Matthias Schulz bewies höchstes Vertrauen in das Regieteam. Er ermöglichte mit knapp einem Jahr Vorbereitungszeit bestmögliche Probenbedingungen mit einem bis zur Premiere konstant gehaltenem Ensemble. Dmitri Tcherniakov, der neben der Regie auch das Bühnenbild verantwortet, musste für seine Visionen keine monetären Restriktionen fürchten. Die Staatsoper Berlin hat die konzeptionellen Erwartungen des Publikums als auch ihre eigenen hochgesteckt und scheute dabei weder Kosten noch Mühen. Man rühmt sich mit einem siebenstelligen Eurobetrag für das Bühnenbild allein – auch die Freunde und Förderer des Opernhauses unterstützen die Neuinszenierung mit einem Spendenaufruf!

Staatsoper Berlin/DAS RHEINGOLD/M. Volle/Foto @ Monika Rittershaus

„Das Rheingold“ startet zunächst richtig stark: Tcherniakov präsentiert knapp ein Dutzend Räume eines Menschenforschungsinstituts mit dem Namen E.S.C.H.E. Seine Bühnenbilder sind dabei von allerhöchster handwerklicher Qualität und Ausstattung, auch die Maske und insbesondere die Kostüme von Elena Zaytseva wirken ausgesprochen hochwertig. Fortan wird das Institut den Rahmen für alle vier Abende bilden. Zahlreiche Figuren der späteren Ring-Opern (wie beispielsweise die Nornen) treten dabei auch immer wieder in stummer Beobachterrolle auf.

Bekanntermaßen sind zwischen den einzelnen Opern des Rings jeweils 15-20 Jahre vergangen. Diesem Umstand wird realitätsnah Rechnung getragen, indem die Charaktere sichtlich altern und damit gar nicht sonderlich göttlich erscheinen. Dies ist insofern verständlich, wir befinden uns auch in einem Institut für die Forschung am Menschen, das Göttliche hat bei Tcherniakov keine Funktion. Der Regisseur schickt das Publikum auf eine Reise durch die Jahrzehnte, anfangen von einem „Rheingold“ der 1950er Jahre bis zur „Götterdämmerung“ in der Gegenwart. Klinisch-helle Oberflächen ersetzen zunehmend die charmante, aus dem vergangenem Jahrhundert entnommene, Holzdekoration.

Ansonsten behalten die Institutsräume ihre Funktion grundsätzlich bei: Die gesamte 16-stündige Ring-Handlung spielt sich im stetigen Wechsel von Empfangssaal, Auditorium, Labor, Archiv oder Verwaltungsbüro ab. Passenderweise werden im Keller (Nibelheim!) die grauenvollsten Experimente durchgeführt. In brutalstmöglicher Darstellung führen Drähte von Alberichs Kopf zu einer medizinischen Apparatur. Mit diesem Experiment wollen die Forscher den Alben gefügig machen und seine Wahnvorstellungen unterbinden. Dies ist eine erste, durchaus gelungene, Ideenassoziation des Regisseurs für den Zweck und die Arbeitsweise des Tarnhelms. Ansonsten nutzt Tcherniakov die Symbole der Dichtung Wagners lediglich selektiv: Weder das Rheingold noch das Nornenseil werden bildlich dargestellt. Auch die Götterburg Walhall, das Pferd Grane oder Brünnhildes Feuerzauber gibt es maximal in ironisierter Form. Übrigens geben die Charaktere in der Tat auch einen Ring weiter. Dieser scheint jedoch wenig Wirkung zu besitzen und dient eher der Dekoration.

Es wird deutlich, dass Tcherniakov die dramatische Vorlage des Komponisten negiert, um so vom Mythos befreit den Fokus auf eigene Themenkomplexe zu richten. Worum wird sich also dieser Ring-Zyklus drehen, fragt sich das szenisch stimulierte Publikum noch zu Beginn!

Staatsoper Berlin/WALKÜRE/Robert Watson (Siegmund), Vida Miknevičiūtė (Sieglinde), Mika Kares (Hunding)/Foto @ Monika Rittershaus

In den ersten Aufzügen von „Walküre“ und „Siegfried“ beobachtet Wotan als Institutsleiter –  er erinnert dabei an den Produzenten der Truman-Show –  das Geschehen um seine Nachkommen mittels einen auf einer Seite durchsichtigen voyeuristischen Spiegel. Erschafft in dem Institut jemand etwa heimlich ein Monster in Frankenstein Manier? Wird das Scheitern eines Cyborgs als Mischung von Mensch und Maschine auf der Bühne dargestellt? Dieses experimentell erschaffene Wesen könnte sich als Siegfried von seinem Erfinder befreien, ihn als Zeichen der unendlichen Freiheit sogar zerstören? Eventuell werden in Analogie zum gleichnamigen Kinofilm gar Avatare erschaffen, also Körper, welche sich durch Bewusstseinsübertragung steuern lassen und so die Götterdämmerung abzuwenden versuchen? Auch ein eher theoretischer Regieansatz entsprechend der philosophischen Schriften Nietzsches – als bekannter Kritiker Wagners – wäre vorstellbar: Wird Tcherniakov Nietzsches fragwürdige Konzeption des „Übermenschen“ in der Form von Siegfried als Utopie oder gar Dystopie thematisieren? Wie Tcherniakov es auch angehen wird, dass dieser Inszenierung zugrundeliegende Sujet ist an seiner Brisanz nicht zu überbieten. Menschenversuche sind nicht erst seit den Zeiten der NS-Diktatur und den Machenschaften des KZ-Arztes Josef Mengele mit negativen Assoziationen besetzt. Das Potential mit solch einer Kontroverse zu scheitern ist enorm – was das Regiekonzept natürlich zunächst umso aufregender machte!

Es sah anfangs danach aus, dass die Neuinszenierung der Staatsoper Berlin selbst die legendären Interpretationen von Frank Castorf oder Götz Friedrich in den Schatten stellen mag! Doch die Ernüchterung stellte sich schnell ein. Leider verlor Tcherniakov irgendwo in den Längen der Wotan-Monologe das Interesse an seinem im „Rheingold“ noch stark eingeführten Konzept von Menschenforschung im Institut E.S.C.H.E. Von Aufzug zu Aufzug ließ Tcherniakov alles trivialer und irrelevanter werden. Zwar nimmt Siegfried auch an einer Art Experiment teilgenommen, aber das hat den Helden weder nachhaltig beeindruckt noch etwas an seiner Psyche ändern lassen. Schlimmer, denn Siegfried scheint den lang aufgebauten Versuch gar nicht bemerkt zu haben. Einzig Regie-Hinweise in den Obertiteln sowie das Waldvöglein im weißen Arztkittel erinnern an eine laborartige Umgebung. Ohne weiteren experimentellen Bezug wird Brünnhilde in einem Schlaf-Labor wachgeküsst, wechselt dann zum Schlussduett völlig unpathetisch in die benachbarte Empfangshalle. Spätestens dann ist erkennbar, wie auswechselbar und charakterlos die Räume trotz detailliert ausgearbeiteter Requisiten geworden sind. Tcherniakov thematisiert nicht weiter, wer überhaupt (die Götter?) zu welchem vermeintlich höherem Zweck hier an wem experimentieren. Auch ob irgendjemand unter den Experimenten leidet, wer von dem Prozedere profitiert und was eigentlich am Ende der Forschung die Erkenntnis sein kann, verschweigt der Regisseur.

Tcherniakov ist dem Makel des „style over substance“ verfallen. Nachdem Bau seines sündhaft teuren Bühnenbilds hat er den Fokus auf den Inhalt verloren. Die Figuren seines Rings wandern munter durch die Säle des imposanten Instituts, mal von links nach rechts und dann von oben nach unten. Eine tiefere Signifikanz weiß der Regisseur seinen Räumen jedoch nicht zu entlocken. Lediglich der für die Umbaupausen sich mehrfach auf- und absenkende Zwischenvorhang erinnert, dass es hier ja eigentlich um Menschenforschung geht: Auf ihm ist der Bauplan des Forschungszentrums E.S.C.H.E. abgebildet. Auf der Bühne wirkt die Gesellschaft der Riesen, Gibichungen und Göttern insgesamt aufgelockert und belustigt. Konkrete Hierarchien waren anfangs im „Rheingold“ noch erkennbar, später gar nicht mehr. Zumindest mit Wagners Thesen und Vorstellungen hat das ganze schon lange nichts mehr gemein.

Staatsoper Berlin /SIEGFRIED/Anja Kampe (Brünnhilde), Andreas Schager (Siegfried)/Foto: @ Monika Rittershaus

Eigentlich ist der Ring-Zyklus ja der Traum jedes Regieteams. Denn wo sonst kann man in 16 Stunden eine Idee vom Urschleim an ausarbeiten und erzählen, dabei Charaktere von großer Tragweite entstehen lassen, diese mit Leben zu füllen, um zu guter Letzt eine Botschaft – und sei es auch eine kontroverse – zu übermitteln. Das Bühnenbild des Instituts hätte eine buchstäbliche Darstellung für die viel berufene „Werkstatt-Wagner“ in all seinen Facetten, Tiefen und Verstrickungen werden können. Aber nach dem eindrücklich anregenden „Rheingold“ plätschert die Regie uninspiriert vor sich hin. Die kurzzeitig auf der Bühne platzierten lebendigen Meerschweinchen und Kaninchen brachten zwar berechtige Kritik von Publikum und Tierrechtsorganisation, schufen dabei aber weder einen Erkenntnisgewinn, noch sorgten sie für die notwendige szenische Intensität. Einen Schockmoment auch ohne Tiere hätte diese Inszenierung an so manch einer Stelle gut vertragen können.

Kurioserweise erzählt der Regisseur die eigentliche Handlung dann doch recht konventionell: Brünnhilde, Siegfried und Waltraute leben, lieben und streiten im häuslichen Miteinander. Auch die jeweils ersten Aufzüge der „Walküre“ und des „Siegfried“ sind in ihrer Personenregie in etwa so, wie es im Libretto des Komponisten angegeben ist. Ein Lichtblick war die Personenregie Tcherniakovs im besonders stark inszenierten Wotan-Brünnhilde-Verhältnis der „Walküre“:  Wie energiegeladen der Göttervater mit seiner Tochter zunächst selbstbewusst und scherzend zum „Hojotoho!“ auftrat, um dann kurz darauf sein Herz vor ihr auszuschütten und sich von ihr distanzierte, war hinsichtlich Mimik und Gestik exemplarisch ausgearbeitet. Auch sonst ist die Personenregie stets präzise und gekonnt, konzentriert sich jedoch stellenweise zu sehr auf harmlosen Klamauk und erheiternde Situationskomik: Wotan, Alberich und Erda als (mehr oder weniger) rüstige Rentner. Die Greise sind von allerlei körperlichen Wehwehchen geplagt und verschütten ihren Tee, gehen am Rollator oder schleichen am Krückstock durch das Institut. Das ist sicherlich amüsant, nur kratzt Tcherniakovs damit bloß an der Oberfläche.

Staatsoper Berlin/Götterdämmerung/Anja Kampe (Brünnhilde)/ Monika Rittershaus

Vollkommen ohne Verknüpfung zu den anfangs lancierten Streitfragen von Wissenschaft und Evolution wird Siegfried während des ebenso sinnfrei wie plötzlich initiierten Basketball-Spiels in der Empfangshalle getötet. Sport ist Mord? Wo bleibt nun die Botschaft und Aussage des Regisseurs zur Moral und Ethik in Wagners Ring-Zyklus oder hinsichtlich seines eigenen inszenatorischen Impulses, der Menschenforschung an dem vermeintlich freien Helden? Mit dem Trauermarsch fährt nach 16 Stunden Musik das imposante Bühnenbild der E.S.C.H.E. spannungslos zur Seite: Einen Koffer in der Hand haltend, singt Brünnhilde ihren Schlussgesang auf leerer, schwarzer Bühne – flapsig wurde das Institut weggewischt, auf dem Hintergrund sind Thesen des Komponisten projiziert. Welche wahrlich profanes, schlecht von Peter Konwitschny aus Stuttgart und Stefan Herheim an der benachbarten Deutschen Oper imitiertes, Finale der „Götterdämmerung“!

Obgleich auf der Bühne wenig Spektakuläres geboten wurde, fand Christian Thielemann immer wieder den passenden orchestralen Klang zum Weltende der Götter. Indem der Dirigent zunächst die die Begleitstimmen in den Vordergrund der Staatskapelle holte, um diese dann stetig von den Hauptmelodien überschwemmen zu lassen, bewies er seine große musikdramatische Kompetenz. Auch in der „Götterdämmerung“ blieben seine Tempi so ausgesprochen langsam wie spannungsvoll. Kein Motiv erklang unter seiner Leitung beliebig oder beiläufig, jeder Klimax war wohl proportioniert und vorbereitet. Stellenweise zerlegte Thielemann den melodischen Fluss gar in einzelne Teile, um die Orchestergruppen jäh im Tutti des Fortissimos wieder zusammenführend schlagartig entladen zu lassen.

Der musikalischen Glanzleistung zum Trotze bleibt der Mangel schlüssiger Interpretationsansätze des Regisseurs Dmitri Tcherniakov doch ein Jammer für das Mammutprojekt eines neuen Berliner Rings! Die Staatsoper Berlin pokerte hoch und hätte sich das hochpreisige Bühnenbild für die Neuinszenierung ehrlich gesagt sparen können. Zwar wirkte Tcherniakovs Konzept zu Beginn noch vielversprechend und sicherlich kann man es in Ansätzen auch als gewagt bezeichnen. Und doch überzeugte der Regisseur einzig durch seine versierte Personenführung. Mit dieser allein hätte Tcherniakov auch einfach die noch nicht einmal zehn Jahre alte Vorgängerinszenierung von Guy Cassiers szenisch neu einstudieren und auffrischen können. Der Erkenntnisgewinn für die Rezeptionsgeschichte des „Ring des Nibelungen“ wäre dabei ähnlich niedrig gewesen – hätte aber immerhin noch ordentlich Geld gespart. Schade, Chance verpasst!

 

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