Zurück in die Schrecken der Nachkriegszeit: „Ku’damm 56“ im Theater des Westens Berlin

Ku’damm 56 – Foto @ Joern Hartmann/Dominic Ernst

Authentischer könnte die Spielstätte für dieses Musical kaum sein: Das Berliner Theater des Westens befindet sich nur wenige Meter entfernt vom Kurfürstendamm, jenem legendären Hauptstadtboulevard auf dem die fiktive Tanzschule Galant der Familie Schöllack im Musical „Ku’damm 56“ angesiedelt ist.  Das Theater des Westens ist eines der bedeutendsten Theaterbauten Berlins, diente es doch in der Nachkriegszeit als Heimat der Städtischen Oper, dem Vorgänger der mittlerweile in Charlottenburg angesiedelten Deutschen Oper Berlin. Der ungarische Dirigent Ferenc Fricsay brachte das damalige Ensemble zu weltweiter Anerkennung. (22. Januar 2022, Nachmittagsvorstellung)

 

In der Adventszeit 2021 feierte das Musical seine vielbeachtete Uraufführung. Auf Grundlage des erfolgreichen ZDF-Dreiteilers aus dem Jahre 2016 erzählt es die Nachkriegsgeschichte der Familie Schöllack. Der Familienvater gilt nach dem Krieg als vermisst und Mutter Caterina muss ihre drei Töchter allein großziehen. Die Erziehung ist konservativ und über die Vergangenheit, einschließlich möglicher Nutznießerschaft der Familie an den Naziverbrechen, wird nicht geredet. Das Musical ist ein Spiegel der Gesellschaft im Berlin der Fünfziger. Es werden zahlreiche Themen und Streitfragen der damaligen Zeit adressiert, die teils noch heute ihre Relevanz besitzen: Von Generationenkonflikten einer durch den Weltkrieg gezeichneten Familie, den ersten Versuchen weiblicher Emanzipation, bis hin zu der Nicht-Aufarbeitung der Verbrechen des Krieges und der Geschichtsvergessenheit eines nur halbherzig entnazifizierten Deutschlands, ist die Themenvielfalt des Abends groß. Der TV-Dreiteiler mit insgesamt knapp viereinhalb Stunden Spielzeit nahm sich die notwendige Zeit und zeigte die Schicksale aller Individuen in seiner Ausführlichkeit. Für ein Musical mit einer Spiellänge von knapp zweieinhalb Stunden wird dieser umfangreiche Inhalt jedoch zur Herausforderung.

Ku’damm 56 – Foto @ Joern Hartmann/Dominic Ernst

Musik und Text von „Ku’damm 56“ stammen aus der Feder von Peter Plate und Ulf Leo Sommer, ein Erfolgsduo, das unter anderem als Texter und Sänger von Rosenstolz zu großer Bekanntheit gelangte. Wie also würde die Musik sein? Erwartet hätte man Songs im Stil der Berliner Band „The Baseballs“, zeitgenössische Hits als Rhythm-and-Blues-Combo der 50er. Also jene Musik, die von Mutter Schöllack abfällig als „Urwaldmusik“ abgetan wird, weil sie dem vermeintlichen Verfall der Sitten Vorschub leiste. Obgleich der Rock ’n’ Roll der 50er in einigen Songs immer wieder durchscheint, ist „Ku’damm 56“ weitestgehend in einem neumodischen Pop-Stil deutscher Singer-Songwriter gehalten – es klingt ganz nach den Liedermachern Clueso oder Johannes Oerding. Das mag erstmal gar nichts Schlechtes heißen, denn die Songs bleiben im Ohr und bauen auf ein ernstes Fundament. Jedoch fragt der geneigte Zuschauer sich, ob hier nicht eine Chance vertan wurde, Charaktere und Konflikte durch die Gegenüberstellung verschiedener Musikrichtungen – ob nun aus den 1950er oder aktueller Stile – schärfer zu zeichnen. Klar ist: „Ku’damm 56“ ist kein Tanzmusical, wie die im gleichen Jahrzehnt spielende „West Side Story“.

Auch wenn es in einer Tanzschule spielt, sind anspruchsvoll choreografierte Nummern rar gesät. Ebenso geht es den Autoren von „Ku’damm 56“, anders als beispielsweise bei dem US-Musical „Grease“, nicht darum, ein Gute-Laune-Feeling der 1950er Jahre zu vermitteln, die Vergangenheit wird hier also nicht glorifiziert: Die Handlung ist von gesellschaftlichen Missständen einerseits sowie individuellen Schicksalen andererseits durchzogen. Schwächen zeigen sich jedoch im Musicallibretto insbesondere bei tiefsinnigeren Liedern. Diese kranken oftmals an allzu platten Textzeilen wie „Dein Blick ist so leer, ich kann das nicht mehr“ oder „Vom Kochen hab‘ ich keinen Schimmer, und meine ich‘s gut wird es noch schlimmer“.

Dafür sind die rockigeren Songs, wie etwa die Anti-Hymne „Berlin, Berlin“ in denen die Schrecken Monikas thematisiert werden, oder „Mutter Brause“, als ein Statement der Freiheit einer jungen Generation, umso raffinierter. Unter der musikalischen Leitung von Caspar Hachfeld lud die Band zum Mittanzen ein, das Publikum tobte! In der Hauptrolle überzeugte Sophia Riedl als Monika. Mit ihrer leidenschaftlichen szenischen Darstellung mit klangschöner, kraftvoller Stimme schuf sie sich die nötige Präsenz, ihrem starken Charakter nahm man jede Emotion ab. David Jakobs hätte in der Partie des Freddy nicht besser besetzt sein können, mit Charme und charismatischer Darstellung ersang er sich die Herzen des Publikums. Ähnlich stark auch Katja Uhlig als Mutter Schöllack, die voller Furcht von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden, als einzige eine Wandlung durchzumachen scheint. Denn in der letzten Szene findet sie schließlich die Liebe zu ihrer Tochter Monika.

Ku’damm 56 – Foto @ Joern Hartmann/Dominic Ernst

Leider bleiben die zahlreichen weiteren Charaktere eher farblos, was auch daran liegen mag, dass ihre Probleme und Schicksale innerhalb weniger Minuten abgehandelt werden. Konflikte werden in Halbsätzen angedeutet, bleiben dann aber häufig im Raum stehen. Vor allem die Schicksale von Monikas Schwestern Helga und Eva fasern im Laufe der zweiten Hälfte aus, sodass sie zu Randfiguren degradiert werden. Auch vermisst man etwas die Berliner Schnauze und das Lokalkolorit, welches bei einem Musical mit dem Titel „Ku’damm 56“ doch auf der Hand zu liegen scheint. Dass die auf Klasse und Stand bedachte Mutter Schöllack ihre Töchter in hochdeutscher Sprache erzieht, ist plausibel. Doch auch von den Nebencharakteren – von Tochter Evas Kurzzeitliebe, einem Maurer aus dem Arbeitermilieu, bis hin zu Pankower Genossen von Vater Schöllack  –  ist kein Berliner Dialekt zu hören.

Schlussendlich drohte das Musical trotz vieler eindrucksvoller Momente – wie beispielsweise die Darstellung der Vergewaltigung Monikas mit anschließendem Unverständnis ihrer Mutter –  an den starken Vorlagen der ZDF-Serie zu scheitern! All die zahlreichen Handlungsstränge der TV-Reihe in einer nur halb so langen Bühnenfassung unterzubringen, stellte die Autorin Annette Hess vor eine zu große Herausforderung. So werden sämtliche gesellschaftskritischen Themen der Zeit angerissen, ohne diese jedoch in der ihr gebührenden Tiefe zu behandeln: Die Rolle von medizinischen Experimenten im Dritten Reich, die Enteignung jüdischen Eigentums, der anschwellende Ost-West-Konflikt oder der Umgang mit Homosexualität im Nachkriegsdeutschland. Dazu gesellen sich unzählige individuelle Schicksale wie Freddys jüdische Herkunft, Monikas ungewollte Schwangerschaft, Selbstmordversuche ihres Vergewaltigers, häusliche Gewalt im Haushalt ihrer Schwester und ein Jahrzehnte zurückliegender Seitensprung der Mutter, der schlussendlich Monikas Geburt zur Folge hat. Wer den TV-Dreiteiler nicht kennt, hat womöglich große Schwierigkeiten, all diesen Handlungssträngen zu folgen, zumal viele von ihnen fast zeitgleich auf der Bühne dargestellt werden. Um den einzelnen Themen und Schicksalen den verdienten Raum zu geben und die Entwicklungen angemessen darstellen zu können, hätte es gutgetan, wenn man die umfangreiche TV-Fassung auf einige Kernelemente der Handlung reduziert hätte. So hätte allein ein Fokus auf das Leben von Monika mit ihren Schwestern und ihrer Mutter als erweiterte Hauptfiguren leicht ein ganzes Musical füllen können.

 

 

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