Am 17. Mai 2024 hatte ich das Vergnügen, »La clemenza di Tito«, die letzte von Wolfgang Amadeus Mozart komponierte Oper, im Haus für Mozart zu sehen. Die „Opera seria in due atti“ (Originalbezeichnung: „Dramma serio“), KV 621, nach einem Libretto von Caterino Tommaso Mazzolà (basiert auf einem Libretto von Pietro Metastasio) wurde am 6. September 1791 im Gräflich Nostitzsches Nationaltheater in Prag uraufgeführt, nur etwa drei Wochen bevor »Die Zauberflöte« am 30. September 1791 im Theater im Freihaus auf der Wieden in Wien ihre erste Aufführung erhielt.
Die Inszenierung von Robert Carsen (Regie und Licht), (Gideon Davey: Bühne und Kostüme) verzichtet auf eine bestimmte historische Epoche und konzentriert sich stattdessen auf die politischen Unruhen, insbesondere auf die Versuche, die bestehende Ordnung zu stürzen. Carsens Konzept ermöglicht es, die im Libretto geschilderten Ereignisse auf das aktuelle Zeitgeschehen zu beziehen. Statt im antiken Rom spielt die neue Inszenierung in einem unscheinbaren Parlamentssaal mit Schreibtischen und Videoschirmen. Die italienische und die EU-Flagge im Hintergrund deuten darauf hin, dass es sich um ein politisches Verfahren der Gegenwart handelt, bei dem die Figuren durch die Rollen auf ihren Namensschildern, die sie um den Hals tragen, definiert sind. Es ist eine kalte Atmosphäre, ohne Mitgefühl: Titos Gnade, die im Mittelpunkt des Librettos steht, wird von den anderen Politikern, die nur auf ihre eigenen Interessen bedacht sind, nicht respektiert. In Carsens Inszenierung wird Tito am Ende tatsächlich von den Verschwörern ermordet, und Vitellia nimmt seinen Platz ein. Als die Musik endet, setzt sie sich lächelnd auf Titos Stuhl.
Es ist wichtig zu beachten, dass der Schwerpunkt im Libretto auf dem Akt der „Clemenza“ und nicht auf Tito als Person liegt (die Figur stellt einen idealisierten Monarchen dar, ein häufiges Thema in der Literatur des 18. Jahrhunderts). Das eigentliche Interesse des Librettos liegt heute wohl in der Beziehung zwischen Tito und Sesto und der Fähigkeit von jemandem mit eigennützigen Absichten (in diesem Fall Vitellia), jemanden (Sesto) dazu zu verleiten, einen nahen und lieben Freund (Tito) zu verraten, indem er sich auf ein mörderisches Komplott einlässt. In dieser Inszenierung wird eine gekürzte Fassung der wahrscheinlich von Franz Xaver Süßmayr vertonten Rezitative gesprochen.
Als Tito Vespasiano ist der Tenor Daniel Behle eine Offenbarung. Behle bringt ein großes Maß an Ernsthaftigkeit und Würde auf, um diesen römischen Kaiser mit dramatischen Einsichten zu spielen: sein Accompagnato vor Titos Urteil über Sesto („Che orror! che tradimento!“) ist aufrichtig suchend und lässt eine enorme Tiefe der Figur erahnen. Behles Koloratur in „Se all’impero, amici Dei“ bestätigt ihn als einen Meister dieser Rolle. Als Schauspieler zeigt Behle Tito als zerrissen zwischen der Professionalität seiner politischen Rolle und seiner Freundschaft zu Sesto.
Cecilia Bartoli wiederholt ihre legendäre Interpretation des Sesto, die sie 1992 mit der Academy of Ancient Music unter der Leitung von Christopher Hogwood aufgenommen hat. Bartoli setzt jede Facette ihrer Mezzosopranstimme ein, um Sympathie für diesen jungen Mann zu wecken, der zwischen der Liebe und dem Verlangen nach Vitellia und der engen, lebenslangen Freundschaft zu Tito hin- und hergerissen ist. Bartoli wirkt äußerst bewegend in den beiden Arien von Sesto („Parto, ma tu ben mio“ und „Deh, per questo istante solo“), die Höhepunkte jedes Aktes sind.
Alexandra Marcelliers aufreizende Vitellia verdeutlicht, wie sie Sesto in ihrer Macht hat, indem sie seine Gefühle mühelos manipuliert, um sich an einer Verschwörung zum Sturz Titos zu beteiligen. Marcellier setzt ihre stimmliche Sinnlichkeit ein, um die Nutzung ihrer Sexualität durch die Figur zu unterstreichen, und es besteht nie ein Zweifel daran, warum Sesto ihr verfallen ist. In dieser Inszenierung stellt Marcelliers Vitellia so dar, dass sie Publio am Ende der Oper dazu manipuliert, Tito zu ermorden. Marcelliers’ Handeln widerspricht dem Text Vitellias Rezitativs und Rondòs („Ecco il punto, o Vitellia … Non più di fiori“), in der sie Reue darüber zeigt, dass sie Sesto dazu gebracht hat, sich an der Verschwörung zum Sturz Titos zu beteiligen.
In den kleineren Rollen ist Anna Tetruashvili als Annio rührend und sympathisch, insbesondere in der Arie „Tu fosti tradito“. Die Servilia von Mélissa Petit ist süß und liebenswert, Merkmale, die zum Charakter passen und die vollkommen ausgedrückt werden in „S’altro che lacrime“. Ildebrando D’Arcangelo erhebt Publio zu einer Schlüsselfigur, deren Anwesenheit für den Verlauf der Handlung von entscheidender Bedeutung ist, auch wenn die Rolle nur eine kurze Arie („Tardi s’avvde“) im zweiten Akt und ein paar Gelegenheiten zum Singen in Ensembles bietet.
Les Musiciens du Prince – Monaco und Il Canto di Orfeo, die von Gianluca Capuano mit dramatischem Elan dirigiert werden, erbringen eine großartige Gesamtleistung. Das Orchester setzt historische Instrumente ein: Die Pauken klirren und die Trompeten rasseln, und Capuanos Tempi sind durchweg straff und kraftvoll, was jede Szene sehr spannend macht, vor allem im Finale, in dem die letzten Takte die Oper mit einem Energiestoß beenden. Die Ouvertüre ist packend, so schnell wie ich sie noch nie gehört habe. Die Orchesterpalette ist von Leichtigkeit geprägt, und die Bassetthorn-Obligati in den Arien von Sesto und Vitellia verflechten sich mit den Gesangslinien wie ein musikalischer Gesprächspartner. Der Chor spiegelt die von den Hauptfiguren ausgedrückten Emotionen wider, wenn er auftritt, so dass er das Geschehen wie in einem antiken griechischen Theaterstück zu kommentieren scheint.
Der donnernde Beifall für die Sängerbesetzung und den Dirigenten im vollen Haus für Mozart unterstrich die gelungene Aufführung.
Am 28. Januar 2024 habe ich dieses Werk unter der Leitung von Jordi Savall in der Felsenreitschule im Rahmen der Mozartwoche rezensiert. Im Januar 2024 habe ich im Salzburger Landestheater eine Inszenierung von Lucio Silla rezensiert, die das Ende einer Opera seria, die angeblich mit Barmherzigkeit und Verzeihung endet, auf zynische Weise umdeutet.
- Rezension von Dr. Daniel Floyd/Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Salzburger Pfingstfestspiele / Stückeseite
- Titelfoto: Salzburger Festspiele/La clemenza di Tito 2024: Daniel Behle (Tito Vespasiano), Anna Tetruashvili (Annio), Mélissa Petit (Servilia), Cecilia Bartoli (Sesto), Statisterie der Salzburger Festspiele/Foto:© SF/Matthias Horn