»Lucio Silla«, KV 135, eine dreiaktige Opera seria (Dramma per musica in tre atti) des damals sechzehnjährigen Wolfgang Amadeus Mozart nach einem Libretto von Giovanni de Gamerra (bearbeitet von Pietro Metastasio), wurde am 26. Dezember 1772 im Teatro Regio Ducale in Mailand unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt. Einschließlich der Uraufführung wurde die Oper 26 Mal aufgeführt, aber zu Mozarts Lebzeiten nicht wieder aufgenommen. Bei den Vorbereitungen zur Aufführung der Oper traten zahlreiche Schwierigkeiten auf, von denen die gravierendste darin bestand, dass der Tenor, für den die Titelrolle vorgesehen war, wegen Krankheit noch vor Beginn der Proben zurücktreten musste. Mozarts Vater Leopold bezeichnete den Ersatztenor, Bassano Morgnoni, in einem Brief vom 2. Januar 1773 als einen Amateur. Infolgedessen komponierte Mozart nur zwei Arien für die Titelfigur statt der vier im Libretto vorgesehenen. (Rezension der Vorstellung v. 27.01.2024)
Die Handlung orientiert sich lose an den Ereignissen während der Herrschaft von Lucius Cornelius Sulla Felix (138-78 vor Christus) im Rom des Jahres 79 vor Christus. Cecilio, ein römischer Senator, den Silla verbannt hatte, ist heimlich zurückgekehrt, um mit seiner Geliebten Giunia, der Tochter von Gaius Marius, Sillas Todfeind, zusammen zu sein. Giunia lehnt Silas Forderung, ihn zu heiraten, ab. Silas Schwester Celia liebt Cecilios Freund Cinna, der sich verschworen hat, den Diktator zu stürzen. Nachdem es ihnen nicht gelungen ist, Silla zu ermorden, werden Cecilio und Giunia inhaftiert. Silla zeigt Gnade, indem er die beiden Paare (Giunia und Cecilio, Celia und Cinna) heiraten lässt, die Verbannten zur Rückkehr einlädt, als Kaiser zurücktritt und die Republik wiederherstellt. Das Fehlen einer Schlussarie zur Vorbereitung von Sillas Kehrtwende in der Schlussszene kann als Stärke interpretiert werden, wenn man bedenkt, dass er weiß, dass viele seiner Untertanen ihn hassen (es gab zahlreiche Komplotte, um ihn zu stürzen und zu töten). Sillas Entscheidung, seine Feinde zu begnadigen und vor dem Senat seinen Rücktritt als Diktator zu verkünden, ist zwar überraschend, aber logisch, da sie ihm die Möglichkeit bietet, zumindest einen Teil der Feindseligkeit ihm gegenüber abzuschwächen (er weiß, dass die inhaftierten Verschwörer kaum die letzten Aufständischen gegen seine Herrschaft sein werden).
Zu Mozarts Geburtstag am 27. Januar 2024 habe ich im Salzburger Landestheater einer Aufführung von »Lucio Silla« gesehen, den gleichen Ort, an dem ich letztes Jahr am selben Tag das Vergnügen hatte, einer Aufführung von »La finta giardiniera« zu erleben. Die Inszenierung von Amélie Niermeyer (Bühne: Stefanie Seitz) verlagert die Handlung aus dem antiken Rom in die Gegenwart, mit Videos (Videodesign: Janosch Abel) und einem Schwerpunkt auf den psychologischen Aspekten der Geschichte. Im Mittelpunkt dieser Inszenierung stehen Themen wie Machthunger, Eifersucht, Neid und ein Liebespaar, das sich gemeinsam gegen einen Despoten stellt. Die Bühne besteht aus einer drehbaren, halb geschlossenen Wand, die auf der einen Seite ein Gefängnis, auf der anderen einen Teil einer Stadtstraße und auf einer weiteren die Wohnung von Lucio Silla zeigt, in der er und sein Vertrauter Aufidio ihre Pläne zur Bestrafung derjenigen ausarbeiten, die sich seiner Autorität widersetzen. Die düstere Szenerie vermittelt die eindringliche Atmosphäre, in der die Geschichte der Unterdrückung und der Versuche des verbannten Senators Cecilio und seines Freundes Lucio Cinna, Silla zu stürzen und die Republik wiederherzustellen, dargestellt wird.
In Niermeyers Interpretation hat Lucio Silla am Ende seine Feinde umgebracht, seine Rücktritt war nur ein Vorwand, weil Verzeihung und Großmut für eine Diktator irgendwie unrealistisch sind. Im 18. Jahrhundert war es in der Literatur und im Theater üblich, Menschen in Machtpositionen mit Großmut zu zeigen. Schon damals wurde ein solches Verhalten als beispielhaft und nicht unbedingt als realistisch angesehen. Eine Parallele findet sich in Mozarts späterer Oper Die Entführung aus dem Serail (1782), als Bassa Selim überraschend Belmonte, den Sohn seines Todfeindes, begnadigt und ihm und seinen Freunden die Freiheit gewährt.
Niermeyers Konzept ist im Allgemeinen interessant und setzt Mozarts Oper in Beziehung zu diktatorischen Regimen in unserer Zeit. Die Darstellung der Titelfigur zeigt jedoch nicht ganz die Art von Persönlichkeit, die es jemandem ermöglicht, eine Position absoluter Macht zu erreichen und zu behalten. In dieser Inszenierung ist Silla arrogant, es fehlt ihm an Selbstbeherrschung und er ist ausfallend, insbesondere gegenüber Giunia, aber das findet auf einer persönlichen Ebene statt. Ein Diktator wie Lucio Silla braucht ein berechnendes Temperament, das Pläne in einem viel größeren Rahmen entwickelt und ausführt, als es ein launischer Missbraucher vermag. Wutausbrüche können zwar vorübergehend Schaden anrichten, aber um Menschen massenhaft und langfristig zu unterdrücken, sind Ordnung, Logik und sorgfältige Planung erforderlich.
Aufgrund der oben genannten Situation mit dem Ersatztenor hat Mozart die Titelfigur mit wenig Musik ausgestattet. Ein Großteil von Sillas Beitrag besteht aus Rezitativen und Ensembles. Der Tenor Luke Sinclair sang beide Arien mit großer Kraft und zeigte die Wut und den Zorn der Figur. Gleichzeitig hat Sinclair einen gewissen Humor eingebaut, um zu zeigen, wie erbärmlich die Figur in dieser Inszenierung wirklich ist. Die Rolle des Aufidio, des Vertrauten von Silla, ist auch musikalisch relativ klein. Der Tenor Joseph Doody stellt Aufidio als einen zwielichtigen, schelmischen Charakter dar, der Silla dazu ermutigt, seine Macht zu nutzen, um anderen zu schaden und Giunia zu zwingen, ihn zu heiraten.
Cecilio, der aus der Verbannung zurückgekehrte Senator, hat eine weitaus prominentere musikalische Rolle als die Titelfigur. Die Mezzosopranistin Katie Coventry gab nicht nur jede Arie leidenschaftlich wieder, sondern auch Cecilios Gefühle der Liebe zu Giunia und des Hasses auf Lucio Silla. In ihrer Darstellung war der Rachedurst des Senators deutlich spürbar. Cecilios Freund Lucio Cinna wurde von der Sopranistin Anne-Fleur Werner gesungen, die die sensible Seite der Figur und ihren inneren Konflikt zwischen dem Hass auf Lucio Silla und dem Wunsch, seine Schwester Celia zu heiraten, hervorhob.
Musikalische Höhepunkte des Abends waren die Sopranistinnen Nina Solodovnikova als Giunia und Anita Giovanna Rosati in der Rolle der Celia. Solodovnikova tauchte wirklich in Giunias Persönlichkeit ein und sang mit erschreckender Intensität, wenn sie ihre Wut auf Lucio Silla, den Mörder ihres Vaters und, wie sie anfangs vermutet, auch von Cecilio, zum Ausdruck brachte. Solodovnikova brachte auch enorme Liebe und Zärtlichkeit zum Ausdruck, als sie mit Cecilio wieder vereint war. Mit ihren strahlenden Koloraturen und ihrer Fähigkeit, auch aus tieferen Lagen kraftvoll zu projizieren, konnte sie alle Seiten von Giunia darstellen, einer Frau, die leidenschaftlich liebt, der aber Unrecht getan wurde und die sogar mit einem Feind zwangsverheiratet werden soll. Rosati war eine kluge, geistreiche und verführerische Schwester von Lucio Silla, die in dieser Darstellung beträchtliche Macht über ihren Bruder zu haben schien und viel mehr war als eine passive, zukünftige Braut von Lucio Cinna, der, ohne es zu wissen, ein Verschwörer gegen Silla ist.
Carlo Benedetto Cimento leitete das Mozarteumorchester Salzburg und den Chor des Salzburger Landestheaters vom Cembalo aus mit Nuancen, Liebe zum Detail und Leidenschaft für die Musik. Cimento regte das Orchester dazu an, einen zügigen Rhythmus beizubehalten und in ergreifenden Momenten das Tempo zu drosseln. Seine offensichtliche Liebe zu Mozarts Opera seria kam stark zum Ausdruck, und die verschiedenen Emotionen in der Partitur wurden in den Vordergrund gestellt. Die Begleitung der Rezitative war farbenfroh und anschaulich, ohne jemals den gesprochenen Text zu überwältigen.
»Lucio Silla« ist hochkarätiges Musiktheater: Mozarts Musik kann sich mit den Opere serie angesehener Vertreter des Genres wie Johann Adolph Hasse und Niccolò Jommelli messen; das Libretto von de Gamerra hat einen hohen literarischen Wert, insbesondere was die geistige Komplexität der einzelnen Figuren und ihre Beziehungen zueinander betrifft. Das Libretto umfasst Themen, wie Machtmissbrauch, Manipulation, Rache, Grausamkeit, politische Intrigen, die Liebe als Kraft, die zu Hingabe und Selbstaufopferung führt, und die Verzeihung von Todfeinden.
Der Jubel des Publikums am Ende und der Enthusiasmus der Mitwirkenden zeigten, wie wirkungsvoll frühe Mozart-Opern auf der Bühne sind.
- Rezension von Dr. Daniel Floyd / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Landestheater Salzburg / Stückeseite
- Titelfoto: LT Salzburg/LUCIO SILLA/Lucio Silla – Anita Giovanna Rosati, Luke Sinclair/Foto © SLT / Christian Krautzberger