Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker finden in der Zwölftonmusik zu kammermusikalischer Schönheit

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker-26.01.23/Foto @ Stephan Rabold

Jeweils ein knapp 20-minütiges Werk von Brahms, Beethoven und ausgerechnet Arnold Schönberg standen an diesem Abend auf dem Konzertprogramm der Berliner Philharmoniker. Denn Schönbergs  Variationen für Orchester, op. 31 stellen bis in die Gegenwart, knapp 100 Jahre nach ihrer Uraufführung, nicht nur für ein Orchester, sondern auch für deren aufgeschlossenes Publikum eine Herausforderung dar. Während sich die heutigen Hörgewohnheiten an manche komplexe Werke wie beispielsweise Alban Bergs Oper Wozzeck angepasst haben, bedarf es bei Schönberg zur Erzielung seiner Ausdruckswirkung eine außerordentliche musikalische Exzellenz in Verbindung mit absoluter Konzentration aller Beteiligten – sowohl der Musiker*innen als auch des Publikums. Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker schufen in diesem Konzert einen jener seltenen Momente, in denen diese Symbiose gelang und legten so dem Publikum die gehaltvolle Komplexität von Schönbergs Variationen für Orchester, op. 31 offen. (Rezension des Konzerts v. 26.01.2023)

 

Die Berliner Philharmoniker haben eine besondere Beziehung zu dem Werk, welches sie im Jahr 1928 unter Wilhelm Furtwängler uraufführten. Schönberg fand in der entwickelnden Variation den stabilitätsbildenden Anker seiner Zwölfton-Kompositionstechnik. Furtwängler unterschätzte zunächst die Komplexität, infolgedessen er zu wenige Proben ansetzte. Das Werk fiel durch und sein Einfallsreichtum blieb zunächst verkannt.

Ausgerechnet Herbert von Karajan, der sich mehr für Neue Musik begeisterte, als rückblickend oft von ihm behauptet wird, setzte Schönbergs Variationen für Orchester, op. 31 regelmäßig auf die Konzertprogramme der Berliner Philharmoniker. Karajan probte das Werk monatelang im Voraus und führte es in den frühen 1970er Jahre bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten immer wieder auf. Schließlich spielte er es im Jahre 1974 sogar auf Schallplatte ein. Ausgerechnet bei einem „All-Schönberg“-Konzertprogramm ersetzte er jedoch eben diese Variationen für Orchester, op. 31 durch ein Klavierkonzert von Mozart, den Protesten des Publikums zum Trotze. Karajans LP-Einspielung sollte fortan seine endgültige und verbindliche Interpretation sein. Er war sehr von der Einzigartigkeit seiner Aufnahme eingenommen und teilte mit, solche musikalischen Ergebnisse in einem Konzert nicht mehr reproduzieren zu können.

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker-26.01.23/Foto @ Stephan Rabold

Und genau an diesem Maßstab konnte sich Kirill Petrenko nun messen. Sein konzentriertes Proben eines Werkes abseits des üblichen Konzertrepertoires zahlte sich aus. Die Berliner Philharmoniker perfektionierten ihr Aufeinander-hören und folgten Petrenkos Anweisungen mit Präzision, dabei den musikalischen Ausdruck stets präsent. Petrenko gab zu verstehen, dass Arnold Schönberg bei im Grunde bei allem was ihm vorschwebte, stets doch Kammermusik komponierte.

Das Konzert eröffnete zunächst mit dem Werk, in welchem sich die Gattung der Orchestervariationen gegründet sieht: Johannes Brahms Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur op. 56a. In den jeweils nur 1-2 minütigen Variationen tarierte Petrenko den individuellen Charakter der Instrumentengruppen aus, indem er die zahlreichen Stimmfarben der Berliner Philharmoniker abstufte und gegeneinander ausspielte. Der Dirigent zeigte, dass Schönberg ausgerechnet in Brahms sein Leitbild fand und setzte die beiden zunächst divergierend anmutenden Werken in einen interpretatorischen Kontext. Denn obgleich es bei Schönberg diffiziler herauszuhören war, bildet bei beiden Künstlern doch stets der Moment des musikalischen Ausdrucks den Ausgang ihres jeweiligen kompositorischen Schaffens.

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker/Foto @ Stephan Rabold

Nach der Pause folgte Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 8, op. 93 in F-Dur. Das Werk wird landläufig als Beethovens „Humoristische“ bezeichnet. Petrenko zeigte jedoch, dass dies lediglich auf den zweiten Satz zutrifft und Beethoven trotz des Anscheins eines musikalischen Witzes auch in diesem Werk seine bedingungslose Kompromisslosigkeit auskomponierte. Petrenkos Donnern der Tonika am Schluss, dazu sein präzise-pochendes, zugleich scharfsinnig klingendes Staccato in den Vierteln, sorgte beim Publikum nicht nur im Finalsatz für angespannte Stille und höchste Konzentration. Wo Petrenko zuvor bei Schönberg noch das kammermusikalische Miteinander im Orchester forcierte, lotete er bei Beethoven die ihm willig folgenden Berliner Philharmoniker in die Extreme. Für Petrenko schien es bei Beethoven insbesondere hinsichtlich Fragen der Tempi kein Sowohl-als-auch zu geben. Genau so und nicht anders muss sein Beethoven tönen: Der Dirigent wusste seinen unerbittlichen musikalischen Willen – ohne Zwang, sondern mittels persönlicher Überzeugung und Intuition –  auf seine Musiker*innen zu übertragen. Mit dieser Sinfonie drang Petrenko in die Tiefe des Geistes Beethovens vor. Konfliktbeladen und spannungsvoll hinterfragte der Dirigent mit Mitteln des musikalischen Humors die äußere Regelmäßigkeit der strengen musikalischen Form ihres Komponisten.

Für das Publikum war das Konzert aufgrund der angespannten, hochkonzentrierten Philharmoniker, auch mental höchst fordernd. Für Petrenko soll dieser Abend erst den Auftakt einer fortwährenden Auseinandersetzung mit Schönbergs Variationen für Orchester darstellen. Im Sommer wird er seine Werksinterpretation auf der Europatournee mit den Berliner Philharmonikern vertiefen.

 

  • Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Berliner Philharmoniker
  • Titelfoto: Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker-26.01.23/Foto @ Stephan Rabold
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