
Ganz Europa scheint derzeit im Ring-Fieber: Paris erlebt endlich einen szenisch aufgeführten Bieito-Ring, München setzt auf Tobias Kratzers Inszenierung, und in Brüssel teilen sich Audi und Castellucci die Tetralogie. Für die großen internationalen Häuser ist Wagners Ring des Nibelungen stets Herausforderung und Chance zugleich – eine Möglichkeit, ein weltweites Publikum zu locken und mit einer prestigeträchtigen Besetzung zu glänzen. Besonders eindrucksvoll gelingt dies derzeit an der Mailänder Scala, einem Haus mit einer reichen Wagner-Tradition, das im Oktober mit David McVicars Neuinszenierung einen Ring-Auftakt präsentierte, der Publikum und Kritiker gleichermaßen polarisierte. (Besuchte Vorstellung: 20.2. 2025)
David McVicars mystisch aufgeladene, aber wenig deutende Bildsprache fügt sich nahtlos in seine jahrzehntelange Karriere als Opernregisseur ein. Wie schon im Rheingold setzt er auch in der Walküre auf die urwüchsige Archaik von Wagners Sagenamalgam. Gut und Böse, Licht und Dunkel – die Figuren sind klar gezeichnet, ihre psychologische Tiefe bleibt jedoch oft bloße Andeutung. McVicars Wunsch, den Ring einem breiten, auch weniger erfahrenen Publikum zugänglich zu machen, ist nachvollziehbar. Doch angesichts der bühnenfüllenden, bisweilen spektakulären Licht- und Videoprojektionen (David Finn und Katy Tucker), der altertümlich-nordisch anmutenden Kostüme (Emma Kingsbury) und der athletischen Tänzer, die in angedeuteten Pferdekostümen über die Bühne springen, drängt sich die Frage auf: Will McVicar tatsächlich den Wagner-Zugang erleichtern, oder ist er selbst noch auf der Suche nach dem innersten Kern der Tetralogie?

Anstatt den Nukleus des Rings freizulegen, bebildert er die Handlung atmosphärisch und überlässt es der Musik, die dramaturgischen Leerstellen zu füllen. Weder Kapitalismuskritik noch gesellschaftliche Kämpfe – die Inszenierung gleitet an der Oberfläche des Wagner-Mythos entlang. Die flache Charakterzeichnung und überraschend unbeholfene Personenregie – gerade bei einem Regisseur von McVicars Format – lassen den ersten Akt ins Stocken geraten. Statt brodelndem Wälsungenblut herrscht szenische Starre; die Figuren wirken oft orientierungslos und greifen auf abgegriffene Theatergesten zurück, denen jede Glaubwürdigkeit fehlt.
Erst im zweiten Akt gewinnt das Drama an Fahrt – nicht zuletzt dank des sängerischen Formats der Besetzung. Michael Volle, einer der führenden Wotan-Interpreten unserer Zeit, lieferte einen Göttervater von erschütternder Intensität. Mit liedhafter, nuancenreicher Phrasierung, perfekter Diktion und einer Stimme, die mühelos zwischen samtweicher Lyrik und verzweifelter Expressivität changierte, berührte er im Abschiedsgesang mit Brünnhilde zutiefst.

An seiner Seite überzeugte Camilla Nylund als jugendlich-energische Brünnhilde mit mühelos strahlendem, kraftvollem Sopran, der bis zum letzten Ton durchgehalten war. Klaus Florian Vogt brillierte als Siegmund mit gewohnt fließender, leuchtender Tenorstimme und unterstrich seinen Status als führender Heldentenor – besonders in der lyrischen Perfektion der Winterstürme. Elza van den Heever fiel die deutsche Diktion im Sprechgesang zwar schwer, doch in den Forte-Passagen des dritten Akts entfaltete ihr klar fokussierter Sopran eine eindrucksvolle Strahlkraft. Doch trotz der vokalen Höchstleistungen wollte die Chemie zwischen dem Wälsungenpaar nicht recht zünden – ihre Bewegungen blieben zu erwartbar, die Leidenschaft bloße Behauptung.
Okka von der Damerau als Fricka hingegen beeindruckte mit kraftvollem Mezzosopran, fein austarierter Phrasierung und emotional durchdachter Rollengestaltung. Günther Groissböcks Hunding hingegen ließ die gewünschte Bassgrundierung vermissen; die rohe Bedrohlichkeit der Figur verlieh er nur wenig Nachdruck.
Was McVicars Inszenierung an emotionaler Tiefe fehlte, kompensierte Alexander Soddy am Pult des Orchestra del Teatro alla Scala mit umso größerer Intensität. Die klangliche Wucht des Orchesters – spitze Speere evozierende Trompeten oder Unheil verheißenden, bedrohlich dräuenden Blechbläsern – ließ die oft statische Bühnenhandlung fast vergessen. Soddy dirigierte mit fesselnder Expressivität, spannte einen dynamischen Bogen, ohne die Sänger zu überdecken, und entlockte dem Orchester feinste Zwischentöne.
Im Juni 2025 folgt mit Siegfried der nächste Teil der Tetralogie. McVicar wird den Ring wohl ebenso märchenhaft weitererzählen, wie er es bisher getan hat. Seine Inszenierung bleibt überwiegend traditionell, risikolos und dürfte auch in den kommenden Teilen kaum revolutionäre Lesarten liefern. Doch sie wird ein breites Publikum ansprechen – vielleicht auch solche, die Wagner zum ersten Mal entdecken. Dass das Scala-Publikum auf eine reiche Wagner- und Walküren-Tradition zurückblickt, scheint McVicar dabei kaum zu bedenken.
- Rezension von Alexandra Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Teatro alla Scala / Stückeseite
- Titelfoto: Teatro alla Scala/WALKÜRE/C. Nylund, E. van den Heever/Foto:Brescia e Amisano ©Teatro alla Scal