
„Oh glücklicher Augenblick“, singen Francesca und ihr Geliebter Paolo mit Blick auf ihre verbotene Liebe. Es ist ein allzu kurzer Moment des Glücks des Paares, dem die Ewigkeit im zweiten Höllenkreis beschieden ist. Für das Publikum hingegen ist die Aufführung der selten gespielten Oper „Francesca da Rimini“ aus der Feder Sergei Rachmaninoffs in der Berliner Philharmonie nicht nur ein Augenblick, sondern ein Abend des musikalischen Glücks. (Besuchte Vorstellung am 17. Januar 2025)
Trauer, Gotteszorn, Höllenfahrt – alles Unglück der Welt scheint sich an diesem Abend darzubieten. Neben „Francesca da Rimini“ hat Chefdirigent Kirill Petrenko Samuel Barbers „Adagio for Strings“ und Sofia Gubaidulinas „Der Zorn Gottes“ auf das Programm gesetzt. Es ist ein Ritt durch die Emotionen, der die Zuhörer:innen fordert. Den Auftakt macht jenes Stück, das einst in einer BBC-Umfrage zum saddest classical work ever gewählt wurde. Petrenko gestaltet den Beginn von Barbers Adagio wendig-schlank mit Fokus auf großer Transparenz. Fast wirkt es als säße nur ein Kammerorchester auf der Bühne, dabei sind es in Wirklichkeit die philharmonischen Streicher in großer Besetzung. Fein sind die Steigerungen, ehe sich das Streicher-Legato aus berühmt-berüchtigten Karajan-Zeiten Bahn bricht.
Wenig zurückhaltend ist hingegen der Beginn zu Sofia Gubaidulinas „Der Zorn Gottes“. Steht bei Barber die Melancholie und stille Zurückhaltung im Vordergrund, ist es bei dem zweiten Werk des Abends eine unbändige Wut. Die Wut über den Menschen, der vor nichts zurückscheut, um sich die Welt untertan zu machen. Kalt glänzend durchschneiden die Bläserklänge – nicht weniger als zwei Tuben sowie jeweils vier Posaunen, Trompeten, Hörner und Wagner-Tuben erfordert die Partitur – zu Beginn die Luft. Über drei Etappen steigert sich die Wut ins nahezu Unermessliche, nur kurze Verschnaufmomente könnt die Komponistin sich und dem Orchester. Ein ohrenbetäubender Spaß, der wenig von der Unterschwelligkeit des vorangestellten Werkes kennt. Da scheint das Höllenfeuer der einzig logische nächste Schritt.

Und so stürzen sich Petrenko und seine Philharmoniker nach der Pause voller Freude in Dantes Höllenkreise. Wie unter einem Brennglas zeigt Rachmaninoff in „Francesca da Rimini“, mit einem Libretto von Modest Tschaikowsky basierend auf Dantes „Göttlicher Komödie“, die Bandbreite menschlicher Gefühle. Ob knisternde Funken oder loderndes Höllenfeuer, transzendentes Schweben oder gnadenloses Stürzen – das Orchester scheint seinem Dirigenten an diesem Abend überall hin bedingungslos zu folgen. Unterstützt werden die Philharmoniker infernale dabei stimmkräftig vom Rundfunkchor Berlin, der sich als Chor der Verdammten mit präzisester Intonation wieder einmal als wahres höllenengelsgutes Ensemble beweist.
Unbestrittener gesanglicher Star des Abends ist dennoch Vladislav Sulimsky, der seine Rolle als ungeliebter Ehemann und betrogener Bruder Lanceotto Malatesta bestechend emotiv gestaltet. Nuanciert wandelt er mit erhabenem Bariton zwischen wahrem Verständnis und rasender Eifersucht ehe ihm alle Menschlichkeit entgleitet, sodass fast alles und jeder um ihn herum verblasst. Dafür erntet er verdient den lautesten Einzelapplaus des Abends. Galina Cheplakova als titelgebende Francesca oszilliert mit ihrem glänzend-jugendhaftem Sopran zwischen samtiger Wärme und seidener Weichheit. An ihrer Seite gibt Dmytro Popov einen geschmeidig-schmachtenden Paolo. Dmitry Golovnin mit warm-schimmernder Tenorstinne als Dante Alighieri und Ilia Kazakov mit wendig-leichtfüßigem Bass als Vergils Schatten komplettieren das Solistenquintett.
Als das Orchester im rasenden Höllensturm verklingt, mag es für Francesca und Paolo „kein größeres Leid [geben], als sich erinnern in den Unglückstagen der guten Zeit“, doch für die Zuhörer:innen ist am Ende des Abends trotz aller Operntragik keine größere Freude, als sich noch lange an dieses musikalische Glück zu erinnern, das vom Publikum mit teils stehenden Ovationen belohnt wird.
- Rezension von Svenja Koch / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Berliner Philharmoniker
- Titelfoto: Galina Cheplakova, Dmytro Popov, Vladislav Sulimsky, Kirill Petrenko, Berliner Philharmoniker und Rundfunkchor Berlin | Bild: Monika Rittershaus