„Awakenings“ – Lieder über den Verlust der Unschuld mit Laurence Kilsby und Ella O´Neill (CD-Präsentation)

CD Präsentation Awakenings/Laurence Kilsby/Foto: Georg Witteler

Im historischen Sancta-Clara-Keller aus dem 13. Jahrhundert am Kölner Römerturm erlebte ich am 16. Mai 2024 eine CD-Präsentation, die mich vom Hocker riss.  Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Den jungen Sänger hatte ich in einer kleinen Tenor-Partie in der Oper Köln gesehen, und ich war neugierig. Man hatte mir erzählt, Laurence Kilsby und Ella O´Neill hätten 2023 den ersten Preis beim Heidelberger Liedsommer gewonnen. Die CD mit ihrem Programm wurde in Co-Produktion mit dem SWR Kultur im Hans-Rosbaud-Studio, Baden-Baden, aufgenommen.

 

Normalerweise stellen Liedduos Stücke unter einem thematischen Aspekt zusammen, in denen sie besonders gut „glänzen“ können, und häufig bleibt es bei der Romantik. „Die beiden haben das Programm selbst entwickelt und brennen für diese Lieder,“ so Produzent Dr. Andreas von Imhoff, der mit seiner Frau durch das Programm führte. In fünf verschiedenen Sprachen gestaltete das Liedduo Laurence Kilsby und Ella O´Neill Kunstlieder des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, die sie über mehrere Jahre gemeinsam erarbeitet hatten. Der Titel der CD: „Awakenings“, ist Programm. Es geht um das Erwachen von Gefühlen wie Liebe, Begehren und Hingabe. Kilsby ist nach Meinung der Times „a young singer to watch“, ein junger Sänger, den man im Auge behalten sollte. Schon in der kleinen Partie des Lucano in Monteverdis „Incoronazione di Poppea“ in der Oper Köln fiel seine enorme Bühnenpräsenz auf. Es war Anlass genug, die CD-Präsentation zu besuchen, ich hätte von ihm auch frühbarocke Musik hören mögen. Stattdessen erwartete mich ein subtiler Strauß hintergründiger Lieder über gebrochene Herzen und sinistre Grenzerfahrungen des Erwachsen-Werdens mit einem Faible für Verführung und Untergang. „Es gibt die Vorstellung, dass die dunkelsten, lustvollsten, impulsivsten Versionen von uns selbst auf den Verlust unserer Unschuld zurückzuführen wären. Dieser Gedanke bildet die Grundlage unseres Programms mit seinen Unterthemen Unerfahrenheit, Naivität und Verderbnis, allesamt Quellen der Faszination für mich und die Komponisten, deren Werke hier vorgestellt werden. Diese Komplexität des Erwachsenwerdens und die Erkenntnis, was es bedeutet, zu lieben und umgekehrt, zu begehren, treiben unsere Reise auf ihre dunkelsten Themen hin,“ so Laurence Kilsby im Booklet.

CD Präsentation Awakenings/Laurence Kilsby, Ella O´Neill/Foto: Georg Witteler

Als Mitglied des Knabenchors der Tewkesbury Abbey wurde der 1998 geborene Laurence Kilsby 2009 von BBC Radio 2 als junger Chorsänger des Jahres ausgezeichnet. Kilsbys Erfahrung als Chorknabe prädestiniert ihn für Partien wie die Evangelisten in Bachs Passionen, die er bereits verkörpert hat. Seine Stimme hat die leicht androgyn wirkende Klarheit eines sehr jungen Mannes, in allen Lagen homogen und ausgesprochen farbig akzentuiert und schattiert. Mit seiner kongenialen Klavierpartnerin Ella O´Neill gestaltete er 17 ungeheuer faszinierende Miniaturdramen und Milieustudien, die Schlaglichter auf die Liedkultur des vergangenen Jahrhunderts in Europa werfen. O´Neill überhöhte die Inhalte der gesungenen Texte mit sehr einfühlsamem und rhythmisch akzentuierendem bildstarkem Klavierspiel, und ich gehe davon aus, dass sie die Lieder mit Kilsby zusammen einstudiert hat. Bei Liedern aus dieser Epoche der Musikgeschichte ist der Klavierpart mehr als eine Begleitung, er ist ein wesentlicher Teil der Atmosphäre und Interpretation des Textes. Beide wurden am Royal College of Music, London, ausgebildet, wobei O´Neill sich als Korrepetitorin und Gesangslehrerin spezialisierte und profilierte.

Das Liedprogramm der beiden steht unter dem Motto „Awakening“ – Erwachen. „The Seal man“ von Rebecca Clarke nach einem Gedicht von John Masefield aus dem Jahr 1922 war wohl die Initialzündung, die dazu führte, dass die beiden in diese Richtung weitersuchten und besonders bei Liedern des 20. Jahrhunderts faszinierende Entdeckungen machten.

Sie begannen mit „Unbewegte laue Luft“ von Johannes Brahms, dem Erwachen der Sexualität eines unbekümmerten jungen Mannes, über „Flickan kom ifrån sin äisklings möte“ von Wilhelm Stenhammar nach einem Gedicht von Ludvig Runeberg,  bei dem es um die ersten sexuellen Erfahrungen eines namenlosen jungen Mädchens geht, die mit dem Verlust ihrer Naivität in die erste Enttäuschung münden. „The Seal man“ beschreibt die starke erotische Faszination, die The Seal man, der gar kein Mann ist, auf eine junge Frau ausübt und die zu ihrem Ertrinken führt. „Tiger, Tiger“ von Rebecca Clarke nach dem Gedicht „The Tyger“ von William Blake zeigt ganz besonders, wie stark das Klavier die Bedrohlichkeit des Tigers beschreibt.

„Complainte de la Seine“ von Kurt Weill nach dem Gedicht von Maurice Magre ist ein typisches Cabaret-Couplet, das Kurt Weill 1934 nach seiner Emigration nach Paris komponierte. Kilsby singt es im Stil von Lotte Lenya in perfektem Französisch.

W.H. Audens „Fish in unruffled takes“ spielt auf die Ähnlichkeit homosexueller Neigungen mit dem natürlichen Verhalten wilder Tiere an, die Benjamin Britten kongenial vertont hat. Damals war die Homosexualität Brittens und sein Verhältnis zum Sänger Peter Pears, mit dem er zahllose Kompositionen uraufgeführt hat, ein offenes Geheimnis.

CD Präsentation Awakenings/Laurence Kilsby/Foto: Georg Witteler

Den Abschluss bildet „Animal Passion“ aus „Natural Selection“ nach Gedichten von Gini Savage von Jake Heggie aus dem Jahr 1997, das unverhüllt weibliches Begehren thematisiert: „I want a lover to sweep me off my feet“, das Kilsby sehr suggestiv, wie eine Raubkatze, völlig egal, ob Mann oder Frau, herausschleudert. Den Zyklus würde ich mir von den beiden komplett wünschen.

Dass man mit solchen Liedern, die das Wesen des sexuellen Erwachens und Begehrens in sehr einfühlsamen Texten mit wunderbaren Metaphern und suggestiven Klaviervorspielen und – Begleitungen den Nerv der Zeit trifft, liegt auf der Hand, wenn sie so hervorragend gesungen und lautmalerisch rhythmisch akzentuiert sind. Gendergrenzen spielen keine Rolle. Kilsby und O´Neill spüren überaus einfühlsam dem Erwachen der Sexualität und des Begehrens nach.

Die CD mit 17 ausgewählten Liedern erscheint am 7.6.2024 und hat eine Laufzeit von 67:14 Minuten. Das Booklet, das zusätzlich zu den Texten in der Originalsprache jeweils eine musikwissenschaftliche Einordnung und eine Inhaltsangabe in englischer Sprache enthält, ist hervorragend dokumentiert von Ella O´Neill. Das Programm der CD wird von beiden am Sonntag, dem 15. September 2024 um 15.00 Uhr in der Londoner Wigmore Hall präsentiert.

 

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • CD „Awakenings“
  • Titelfoto: CD Präsentation Awakenings/Laurence Kilsby, Ella O´Neill/Foto: Georg Witteler
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Ein Gedanke zu „„Awakenings“ – Lieder über den Verlust der Unschuld mit Laurence Kilsby und Ella O´Neill (CD-Präsentation)

  1. Sehr treffende Beschreibung des Abends. Mich hat die Performance des Duos ungemein beeindruckt, trotz eher geringer Neigung zu klassischer Liedmusik.
    Wunderbar!
    Beim „Complainte de la Seine“ sah ich kurzzeitig Jacques Brel vor meinem geistigen Auge.
    Alles in allem ist der Kauf der CD eine lohnende Investition und auch als Geschenk bestens geeignet.
    Ich wünsche den beiden viel Erfolg!

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