Väter, Söhne und das Böse dazwischen – Interview mit dem Bass David Leigh

David Leigh/ Foto: Jiyang Chen

Fähige Siegfriedmörder wachsen bekanntlich nicht auf Bäumen – nicht einmal auf der Weltesche in Wagners Ring des Nibelungen. Wie gut, dass der amerikanische Bass David Leigh dieser Aufgabe gewachsen ist. Inmitten einer sich rasant entwickelnden Karriere und bereits in jungen Jahren immer größer werdenden Rollenangeboten debütierte der Absolvent des Lindemann Young Artist Development Program an der Metropolitan Opera New York letzten November in der Zürcher Götterdämmerung den Hagen und singt ihn diesen Frühsommer zum ersten Mal eingebettet in den gesamten Zyklus. Ein Gespräch über Sorgerecht für Nibelungensöhne, stimmliche Entwicklung einer Bassstimme – und wie es eigentlich ist, mitten in der Pandemie die Rolle des „ganz großen Bösen“ in Wagners Götterdämmerung einzustudieren.  → (Please see the link below for the English version)

 

OPERNMAGAZIN/OM: Sie sagten einmal, Hagen sei eine Traumrolle. Was macht ihn zu dieser?

David Leigh/DL: Hagen ist – zunächst sind als dramatischer Bass viele Rollen etwas eindimensional, und Hagen hat ein Ausmaß an Schönheit an sich, das häufig übersehen wird. Die Leute haben dieses Bild im Kopf von Matti Salminen oder jemandem, der einfach losbrüllt – und ich glaube, es ist vor allem ein zutiefst schöner und komplexer Charakter. Ich glaube außerdem, dass Wagner viel komplexer ist als viel Musik, die ich sonst singen darf, und es ist gleichzeitig die teuflischste und schönste Musik, die ich in meinem Leben jemals gesungen habe. Ich finde diese Gleichzeitigkeit sehr selten – das bekommt man nicht, wenn man Mozart singt, was reine Schönheit ist ohne Boshaftigkeit. Das ist einzigartig: diese Boshaftigkeit und diese starke, tiefsitzende Qualität, die Hagen hat.

OM: Auf dem Altersspektrum für die Rolle des Hagen sind Sie vielleicht auf der jüngeren Seite – und das ist zugegeben ein sehr britisches ‚vielleicht‘, wo wir ‚vielleicht‘ sagen und ‚gewisslich‘ meinen – und gewissermaßen ist das eine Erinnerung daran, dass Hagen auch jemandes Sohn ist. Beeinflusst Alter Ihre Konzeption und Ihre Darstellung dieses Charakters auf irgendeine Weise?

Opernhaus Zürich/David Leigh als Hagen /Götterdämmerung/ Foto: Monika Rittershaus

DL: Ja, ich glaube, auf alle möglichen Arten. Um mich einmal beiseitezustellen und nur vom platonischen Ideal-Hagen zu sprechen, sind die Anforderungen außerordentlich. Niemand wird auf jede Art der perfekte Hagen sein, und ich glaube, wenn man den platonischen Ideal-Hagen wählen würde, wäre er vielleicht in meinem Alter; er sollte dasselbe Alter wie Siegfried haben. Idealerweise wären sie sogar noch jünger, in ihren Zwanzigern, und ich glaube, Hagen sollte athletisch sein – man sollte das Gefühl haben, dass wenn Siegfried kein Halbgott wäre, Hagen sein perfekter Gegenspieler wäre. Was ihn nicht zum idealen Gegenspieler macht, ist ausschließlich Siegfrieds Geburtsrecht. Auf einer persönlichen Ebene versucht man immer die Rollen, die man singt, zu den eigenen zu machen, nicht? Ich sang meinen ersten Sarastro in meinen Zwanzigern, glaube ich, und ich glaube nicht, dass das ein Alter des platonischen Ideal-Sarastros war, aber man versucht immer einen Weg zu finden, sich eine Rolle zu eigen zu machen. Gewissermaßen denke ich, jetzt ist eine perfekte Zeit, meinen ersten Hagen zu singen. Vielleicht, wenn ich sechzig bin und mehr Hagens singe, werde ich denken: ‚Das war Quatsch gewesen und ich hätte das nicht so machen sollen‘. Aber im Moment habe ich das Gefühl, das ist genau, wer Hagen sein sollte. Ich quassele vor mich hin, aber […] während meines zweitens Masterstudiums schlug ich vor, Brahms’ Vier ernste Gesänge zu singen, und mein Lehrer sagte: ‚Sie sind zu jung, um das zu singen‘, und ich sagte: ‚Tatsächlich! Ich habe das schon gesungen!‘, und mein Lehrer sagte: ‚Nein, nein, nein. Es geht um Verlust und Tod und was man alles in der Welt verpasst hat und Sie können das unmöglich verstehen. Sie sind dreiundzwanzig Jahre alt, oder so‘. […] Er hatte komplett recht. Man sollte diese Lieder nicht in seinen frühen Zwanzigern singen, weil man von gleichzeitiger Angst vor und Sehnen nach dem Tod singt und das kann man in dem Alter unmöglich verstehen, oder an jedem Punkt einer frühen Karriere. Ich erwähne das, weil ich glaube, dass es eine Art spirituelle oder ideologische Reife gibt, die für viele Hagens später kommt, aber es hat auch eine körperliche Boshaftigkeit, die vielen Hagens fehlt, und deswegen glaube ich, es ist spaßig, mal einen Jungen dessen zu haben.

OM: Das ist ein sehr hypothetischer Nachtrag, aber: glauben Sie, Sie sehen seinen Charakter jetzt anders als Sie es würden, wären Sie älter?

DL: Ja, da bin ich mir sicher. Jetzt beispielsweise ist Hagen für mich seltsam fasziniert mit Siegfrieds Kraft. Wenn Siegfried am Anfang auftaucht, sagt Hagen so etwas wie: ‚Na, sieh mal an, wie der rudert!‘, und das ist eine seltsame Art, über jemanden zu sprechen, dieses ‚ist der muskulös!‘. Homoerotisch will ich nicht sagen, weil es das nicht ganz ist, aber es ist fast eine Art Neid. Und ich glaube, für einen älteren Hagen wäre da stattdessen ein Gefühl, dass er nicht ebenbürtig sein will. Er wäre einfach beeindruckt; teilweise, weil es nicht das ist, was er hat – er hat diese Listigkeit, diese Bereitschaft, alles zu tun, was er tun muss. Und ich frage mich, ob ich es in zwanzig Jahren eher so singen würde. Außerdem – Gedankensprung, aber ich frage mich dauernd, wie Gutrune und Gunthers Mutter aussah. Wenn ich halb Alberich bin, und ich weiß, wie Alberich [ein Nibelung und Zwerg] aussieht und spricht – wie war sie eigentlich? Zweieinhalb Meter groß? Spricht sie anders? Hagen kann wie Alberich sprechen, tut es aber meistens nicht. Wenn ich älter wäre, würde ich mich fragen, ob ich einen anderen Zugang zu Hagens adeliger, hochwohlgeborener Seite hätte, mit der ich mich im Moment nicht viel beschäftige.

OM: Eines der bemerkenswertesten Merkmale der Zürcher Rings ist eine Darstellung des Beziehungsgeflechts, bei dem nichts dem Zufall überlassen scheint, und Hagen spielt dabei auch eine präzise Rolle. Es gibt einen einzigartigen Moment im zweiten Akt, als er und Brünnhilde allein zurückblieben nach der schiefgegangenen Hochzeit. Sie ist emotional ganz durcheinandergeschüttelt, stolpert ihm mehr oder minder in die Arme, klammert sich daran – und er sieht minutenlang zutiefst schockiert aus. Interessanterweise löst Gunther nicht annähernd dieselbe Reaktion aus, wie er sich an Hagens Mantel krallt und Mitleid sucht. Was ist der Gedanke zwischen diesen sehr kontrastierenden Reaktionen?

DL: Ich liebe diese Frage! Wagner ist da ein bisschen unzüchtig, auf eine gewisse Weise, dass Hagen vielleicht keinen Sex haben kann, oder gewiss nicht lieben kann. Er scheint fähig und unfähig zu lieben, es hat diese Dichotomie, aber er hatte sicher noch nie eine Frau um sich. Das war Andreas Homoki, der sagte: ‚Hat Hagen eigentlich jemals eine Frau berührt?‘ – und für mich ist es zusätzlich ein Echo aus dem ersten Akt. Siegfried taucht auf mit Grane, dem Pferd, und es ist dieser ominöse Moment, der vorausahnen lässt, dass ich Siegfried umbringen werde, weil ich sage: ‚Ich biet ihm Rast‘. Aber dann bekomme ich das Pferd, und Siegfried erzählt mir, dass das Pferd fantastisch ist und ihm von einer wundervollen Frau gegeben wurde. – Auch interessant, dass Gunther nicht schnallt, dass diese Beziehung zu Brünnhilde sein muss, aber na gut. – Ich habe einen Moment, wo ich das Pferd auf dieselbe Art halte, wie ich einen Akt später Brünnhilde halte. Andreas hat das nicht spezifisch herausbuchstabiert, aber für mich ist das derselbe Moment, fast wie ein Echo des Lebens, das Hagen hätte haben können. Ähnlich gibt es im Orchester dieses Motiv [singt] in beiden Momenten, das Motiv von Verlust einer Liebe, das vielleicht hervorhebt, dass Hagen unfähig zu lieben scheint. Für mich zeigt dieser Verlust in seinem negativen Raum eine Abwesenheit: dieses Leben, das Hagen hätte haben können, er aber nicht haben kann. […] Ich glaube, dieser Moment hat auch eine gewisse Weiblichkeit, und für Hagen besteht eine Gleichzeitigkeit zwischen seiner Sehnsucht nach menschlichen Beziehungen [einerseits], von der, ich finde, Wagner so tut, als wäre sie nicht da, aber sie ist tatsächlich sehr da, die gewissermaßen die Sehnsucht Alberichs reflektiert. Hagen will auch von allen geliebt werden, und als er das nicht bekommt, erscheint [andererseits] dieser tiefe Hass. Gewissermaßen ist es, als könne er Liebe nur durch ihre Abwesenheit genießen, oder durch Hass. Der beste Teil dieser Szene ist für ihn, wenn sich Gunther an seinem Mantel festklammert; das ist so ein ‚oh ja, ich hab’s geschafft!‘. Und wenn Gutrune emotional verletzt ist, denkt sich Hagen: ‚Oh ja, ich habe gerade eine menschliche Erfahrung!‘. Das ist vermutlich der beste Moment seines Lebens, als er Siegfried umbringt. Wenn Gunther Gutrune verrät, dass es Hagen war – ‚Er ist der verfluchte Eber‘ – ist das vielleicht Hagens glücklichster Moment in der Beziehung mit seinen Geschwistern. Ich finde das sehr cool [lacht]. Auf eine düstere Art.

OM: Hagen wird manchmal auch als „böse geboren“ besprochen, wie Wotan es gewissermaßen bereits in der Walküre tut: ‚Des Hasses Frucht hegt eine Frau, des Neides Kraft kreißt ihr im Schoß‘…

DL: …wobei ich nicht weiß, ob das eine Andeutung einer Vergewaltigung ist – ich bin mir nicht sicher, ob er zu sagen versucht, dass Hagen böse geboren wurde, was, glaube ich, auch drinsteckt, oder ob er sagen will, dass Hagen das Ergebnis dieser bösen Tat ist.

OM: Allerdings ist Wotans eigenes Verständnis von ‚Consent‘ vielleicht auch eher mangelhaft– ‚mit Liebeszauber zwang ich die Wala […] von mir doch barg sie ein Pfand’ klingt irgendwo auch nach Vergewaltigung. Hagen und seine Erziehung durch seinen zwergigen Druckbetanker von Vater, Alberich, kann man daher auch als lebendes Beispiel der „inneres Naturell vs. äußere Erziehung“-Debatte sehen. Wo würden Sie ihn in dieser Debatte positionieren?

DL: Als Ouvertüre für diese Antwort – die vielen Tangenten tun mir leid –

OM: Nicht doch!

DL: Ich frage mich immer, was eigentlich das Sorgerechtsarrangement ist, wenn es um Erziehung geht, oder? Offensichtlich hat er eine Beziehung mit seinen Geschwistern. Wenn […] Hagen geboren wird, ein Monsterchen ist und Alberich ihn wegnimmt, warum hätte er dann eine Beziehung zu diesen Geschwistern? Aber wenn er eine Beziehung zu seinen Halbgeschwistern hat, wie hat er dann eine Beziehung mit Alberich? Erscheint Alberich nur nachts? Man weiß nicht recht, was die Erziehungskomponente ist, aber man weiß, was die Komponente seines Naturells ist. Gleichzeitig sieht man kleine Fetzen. In den ersten Zeilen der Gibichungenszene sagt Gunther, sie seien Halbbrüder – er versucht, Hagen ein Kompliment zu machen, ‚du warst immer der Schlauere‘ und so weiter. Aber Halbbrüder zu sagen – du versuchst mir ein Kompliment zu machen; warum würdest du das so betonen? Wir sind Brüder, oder nicht? Das ist sehr ungemütlich, und wir bekommen dieses Gefühl, dass Hagen immer ein Außenseiter ist. Ich denke darüber auch als Jude, der selbst Wagner singt, nach – das ist vielleicht sehr weit in meiner Psyche, wie ich das alles sehe – wissend, dass Wagner so ein giftiger Antisemit war, gibt es eine Art, auf die ich denke: ‚oh ja, Hagen muss ein Außenseiter gewesen sein‘. Es gab Gemeinschaften, die Juden ausschlossen, und spezifizieren wir uns doch nicht auf Juden, sondern auf Nibelungen, auch wenn das hier ein Metonym für einen Juden ist – über [Nibelungen] sprechen wir im Stück häufig, als ob sie komplett böse wären. Um die Frage ungeschönt zu beantworten, habe ich das Gefühl, Hagen ist ungefähr neunzig Prozent Erziehung und zehn Prozent Naturell, aber die Frage ist: welcher Teil der Erziehung ist so schwer für ihn? Ist es die Erziehung seines Vaters? Ja, ich glaube, die verunstaltet ihn, aber ich glaube auch, dass das etwas oberflächlich ist. Ich glaube, was ihn viel mehr verletzt, ist die Erziehung seiner menschlichen Familie.

OM: Die Halbgeschwister, wohlgemerkt.

DL: Ja, und seine Mutter. Er sagt, seine Mutter habe ihn immer daran erinnert, er sei weniger wert – in seinen allerersten Zeilen.

Opernhaus Zürich/David Leigh als Hagen /Götterdämmerung/ Foto: Monika Rittershaus

OM: Hagen als Rolle ist, auf eine gewisse Art, verehrt und gefürchtet aufgrund ihrer Anforderungen an die Stimme, das Volumen und die Dunkelheit, die sie verlangt, und das auf manchen der Spitzentöne – und, weil sie auf der Bühne einfach funktionieren muss, weil Hagen für die düstere Aura des Verderbens in der Götterdämmerung so wichtig ist. Hatten Sie jemals Angst, es würde sich nicht so entfalten, wie Sie das wollten?

DL: Absolut! Fast bei jeder Rolle, aber besonders bei Hagen. Es kehrt zurück zur Idee des platonischen Ideal-Hagens versus dem Realen. Sorgte sich Matti Salminen jemals darum, dass er nicht athletisch genug sei, oder zu böse, oder zu viel rumstand und bellte? Für mich ist Matti Salminen fantastisch. Aber hat er sich darum gesorgt? Tue ich das? Absolut. Ich weiß gar nicht, ob ich mich viel um das Volumen sorge. Anfangs tat ich das, als ich die Rolle vorbereitete. Ich las all diese Interviews; Kurt Moll sagte, er hat die Rolle nie in die Hand genommen; sie würde seine Stimme zerstören, sie kann schlechten Gesang fördern. […] Es war ein neunwöchiger Probenprozess, der längste, dem ich jemals beigewohnt hatte, und sehr fordernd, das täglich zu singen. Aber als die Premiere näher rückte, dachte ich: ‚Okay, ich kann das gewiss singen‘. Aber es nach meinen Standards zu singen? Die sind unmöglich hoch. Ich schreibe nach jedem Auftritt meinem Lehrer eine SMS, und ich gebe mir immer eine Note, und ich glaube nicht, mir jemals mehr als eine 2+ gegeben zu haben. Ich glaube, das liegt daran, dass die Rolle alles braucht. Sie muss perfekt sein, und das ist sie nie. Ich finde dieses Scheitern aber auch irgendwie schön. Es ist Teil dessen, was sie zu einer Traumrolle macht, wenn ich ehrlich bin. Ich weiß, wie der Commendatore ist, wie er sein sollte. So ist das nicht bei Hagen.

OM: Und wie sind Sie diese Herausforderungen angegangen, stimmliche und sonstige?

DL: Das war ein seltsamer Prozess. Ich bekam den Anruf, dass ich Hagen singen würde, in der ersten Woche des Lockdowns in New York. Wir hatten ungefähr sechs Monate lang darüber gesprochen, und weil ich jung war, waren sie sich nicht ganz sicher – und als ich diesen Anruf bekam, war ich so aufgeregt und wollte an nichts Anderes arbeiten. Aber wir durften das Haus nicht verlassen. Mein Lehrer wohnt vier Querstraßen entfernt. Er scannte mir Partituren ein und schickte mir Aufnahmen. Ich habe Essen an seiner Tür abgeliefert, aber wir haben uns nie gesehen. Wir haben geskypt, aber das ist nicht synchron. Er nahm Klavierexzerpte auf, und ich sang dazu, nahm das auf und schickte es zurück. Aufgrund der Natur der Lage lag viel Fokus auf dem Text, auf dessen Bedeutung. Ich habe Diagramme aller Leitmotive erstellt. Als die Welt wieder etwas auftaute, achtzehn Monate später, das war erstaunlich – achtzehn Monate Arbeit an Hagen ohne Pianisten. Und als ich das erste Mal [mit meinem Lehrer] daran arbeitete, fing ich an zu weinen. Es war unglaublich. Zuerst fand ich es schwer, dass ich nicht genug am Stück üben konnte, ohne Fehler zu machen, um es an einem Tag durchzusingen. In einer zweistündigen Gesangsstunde ist die Rolle knapp neunzig Minuten von Anfang bis Ende, und wenn man Dinge wiederholt, schafft man es nicht durch. Es hat ungefähr zweieinhalb Jahre gedauert, bis wir das Ganze durchspielen konnten, ohne anzuhalten – nicht, dass ich keine Fehler mehr gemacht hätte. Ich war angenehm überrascht von dem Durchhaltevermögen, dass ich das jeden Tag singen konnte. […] Das war direkt bevor ich hierher [nach Zürich] kam. Ich dachte: ‚Ich kann das singen! Das wird einfacher, als ich dachte!‘. Aber dann kam ich hier an und dachte: ‚Heiliger Bimbam, das ist so viel schwerer als gedacht‘. Wir haben im Probenraum diese Scherze gemacht, dass Andreas Homoki alles imitiert, ungefähr so [steht auf und imitiert], und nie geradesteht, denn er zeigt gern die knorrige, ungelenke Seite der Dinge. Ich dachte, er will, dass wir so auf der Bühne stehen, aber tatsächlich ist das nur, wie er demonstriert. Ich dachte: ‚Versucht er, mehr Alberich zu sein?‘. Es hat meinen ganzen Körper beansprucht […] ich sang nämlich wie ein Buckliger. [Diese lange Probenzeit] gab mir die Chance, die Rolle wirklich in den Körper zu bekommen, aber jeden Tag habe ich um eine Auszeit gebettelt. Ich kam rein und sagte: ‚Leute, es ist nicht mal die Stimme. Mein Rücken tut weh‘. Und als ich COVID zwei Wochen vor der Premiere bekam, hatte ich fast vier Jahre daran gearbeitet – ich würde diesen Auftritt nicht fallen lassen. Aber ich ruhte mich ein wenig aus und mein Rücken wurde besser. Es ist wie [Tolstois] Krieg und Frieden lesen, nicht wahr? Es dauert lang genug, dass man sich als Mensch während des Prozesses verändert. Denn es sind vier Jahre Arbeit eines Lebens, und all das Leben wird in diese Darstellung reingebacken. Ich erinnere mich an den ersten Abend, im ersten Akt, als Alberich hinter mir erscheint und ich das Gewicht seiner Gegenwart spüren soll. Ich habe das ganze Gewicht dieses Prozesses gespürt, nicht mal Alberich, sondern meine eigenen Erwartungen an mich selber haben mich auf den Boden geworfen. Das ist so sehr die Realität einer solchen Rolle. Es war auf eine ganz andere Art herausfordernd, wie ich erwartet hatte.

OM: Sie haben bereits zwei Wagnerrollen gesungen, die vielleicht nicht assoziiert sind mit den klassischen Entwicklungsstationen einer dramatischen Stimme für Bässe: Hagen und König Marke. Würden Sie sagen, dass Wagner nicht sehr gnädig war, Rollen für jüngere Bässe zu erschaffen, die ihre dramatische Stimme soeben entwickeln – anders als bei Sopranistinnen, Tenören und Baritonen beispielsweise?

DL: Ich glaube, Bässe haben in fast jedem Repertoire dieses Problem. Es gibt Rollen, die alte Männer sein sollen, aber man kann sie als junger Mensch singen, weil sie recht kurz sind. Es gibt viele recht kurze Rollen, also denken Leute, es gäbe einen gute Entwicklungsverlauf. Tatsächlich sind diese Rollen, auf die Art, in der sie geschrieben sind, gar nicht förderlich für die Entwicklung der Stimme. Marke ist fast bel-canto. Es ist eine Herausforderung an die Ausdauer, weil man fünfzehn Minuten ohne Pause singt. Aber ich glaube, die größte Herausforderung sind oft die Hoffnungen und Träume, die man selbst dafür hat und die Erwartungen eines gewissen Publikums. Ich habe vor dem Krieg viel in Russland gesungen – eigentlich sollte ich bei Kriegsausbruch auch dort sein, glücklicherweise war ich es nicht, und ich hatte mir gedacht: ‚warum bekomme ich bloß kein Visum? – Oh! Deshalb!‘ – und ich bemerkte, dass häufig, als ich mit russischen Personen zusammenarbeitete und sie mich hörten, sie sagten: ‚ja, so sollte eine Stimme klingen‘. Und lange Zeit während meiner Ausbildung in den USA wurde mir gesagt, ich sollte leichter, heller singen. Die Erwartungen dieser zwei Publika waren ganz anders. Wagner und russische Musik brauchen viele Qualitäten, die meine Stimme offenbar natürlich einfach hat, also war das gut für meine Entwicklung, anders als wenn ich mich zwang, leichtere Dinge zu singen. Das ist eine gute Herausforderung, aber manchmal weniger förderlich für eine gewisse Art von Stimme. Es gibt eine Art, auf die Wagner sehr freundlich zu den richtigen jungen Sängern ist und eine Art, auf die das Bassrepertoire sehr unfreundlich für junge Sänger ist.

OM: Gab es Komponisten oder Werke, die in Ihrer Jugend und Ihrer sängerischen Entwicklung stets besondere Bedeutung hatten?

DL: In meiner sängerischen Entwicklung, da ist es schräg…

OM: Oder persönlich, es kommt darauf an!

DL: Persönlich liebe ich Bartók. Das habe ich schon immer, und ich habe ihn nie gesungen. Vielleicht singe ich irgendwann Blaubart; ansonsten gibt es nicht viel Bartók, den ich singen könnte, selbst seine Lieder. Ich liebe Strauss, ich habe nie welchen gesungen; vermutlich werde ich viel davon singen, aber zurzeit ist es nicht wirklich altersgerecht. Viele Komponisten, die ich liebe – wie Stravinsky – sind nicht diejenigen, die ich singen werde. Ich liebe Wagner zutiefst, und russische Musik, aber sie waren nicht immer Teil meiner Entwicklung, weil sie dazu tendieren, Dinge zu sein, zu denen man später im Leben kommt. Ich glaube, das ist eine meiner besten und schlechtesten Tendenzen als Sänger: ich liebe manche Musik so tief, dass das es schwerer macht, sie anzupacken. Wenn ich Rossini lieben würde – was ich nicht tue – dann wäre es einfach für mich, das in meine stimmliche Entwicklung einzufügen. Aber meine stimmliche Entwicklung ist immer etwas Angestrebtes, nie etwas, das natürlich erscheint.

OM: Sie sind aus seiner sehr künstlerischen Familie, studierten zunächst Komposition an der Yale University und dann Gesang. Hatten Sie den Gesang schon früh ins Auge gefasst?

DL: Nein, ich hatte dorthin einen seltsamen Pfad. Mein Vater ist Komponist, und eines der lustigen Dinge, wenn der Vater Komponist ist, ist, dass er starke Meinungen darüber hat, was man selbst tun sollte. Und diese starken Meinungen sind meistens ziemlich schlau. Ich sang als Kind, wie alle Kinder, aber ich konnte nichts richtig anstimmen, weil kein Kind das kann. Als ich also sehr jung war, sagte mein Vater: ‚Nein, nein, nicht singen‘ – und das klingt so, als wäre er nicht unterstützend gewesen. Bis ich tatsächlich Sänger wurde, war er sehr unterstützend. Aber am Anfang dachte ich, ich hätte keine Stimme, und dann sang ich ein wenig in der Oberstufe, da der Chor mehr Bässe benötigte. Aber selbst dann konnte ich Tonlagen nicht richtig nachsingen und überhaupt gar nicht hoch singen. Ich dachte überhaupt nicht, dass ich jemals Sänger werden würde. Gewissermaßen hätte ich das nie werden sollen. Ich war Komponist und bekam kurz nach der Finanzkrise [von 2008] meinen Abschluss. Die Professorin, der das Kompositionsprogramm unterstand, sagte zu uns allen: ‚Hört mal, heutzutage gibt es kein Geld für Kompositionen, weil keiner etwas beauftragt. Ihr werdet es einfacher haben, mit einem Master fürs Instrumentenspiel beauftragt zu werden‘. Und ich dachte: ‚Na, ich bin ein schlechter Pianist‘ und wusste nicht, was ich tun sollte, und sie sagte: ‚Hast du nicht mal in Opern gesungen?‘ und ich meinte: ‚Ja, zum Spaß! Doch nicht, weil ich gut darin bin!‘. Sie sagte, das sei egal. Ich bewarb mich nicht bei Juilliard, ich dachte: ‚Das ist für die richtig guten Leute‘, sondern bei Mannes und der Manhattan School of Music, und von Mannes bekam ich ein großes Stipendium. Ich tauchte da auf und erzählte allen: ‚Ich bin übrigens Komponist‘. Aber nach einem Jahr war ich sehr engagiert. Wenn man guten Gesang in einem sehr kleinen Zimmer hört, ändert das das Leben. Danach dachte ich, ich will unbedingt Sänger werden. Ich war ungefähr dreiundzwanzig, als ich das entschied. Meinen Vertrag mit der [Metropolitan Opera New York] unterschrieb ich drei Jahre später. Es war ein Wirbelsturm von Erfahrungen – eine sehr schnelle Richtungsänderung, und ich weiß nicht, ob ich damals wusste, auf was ich mich einlasse. […] Als ich jedoch für den Bachelor studierte, war ich zunächst für Mathematik eingeschrieben. Auf der Seite meiner Mutter haben wir viele Mathe- und naturwissenschaftliche Professoren; der Rest meiner Familie sind Künstler. Es war eine interessante Erfahrung, zu realisieren, dass [Mathematiker] nicht das sein würde, was ich tun würde, weil ich mir so sicher gewesen war, dass das mein Weg werden würde, als ich zu studieren anfing. Und ich studierte auch Komponieren, aber ein bisschen zum Spaß. Und das sich wandeln zu sehen – als Künstler ist es eine sehr gute Erinnerung daran, Leben zu konzipieren, die sich weiter erstrecken [als der eigene Job]. Berufe in den Künsten drehen sich immer um Vorstellungskraft, und doch werden wir so eingeschlossen in unserer einzigen Tätigkeit.

OM: Sie sind außerdem Absolvent des Lindemann Young Artist Development Program an der Metropolitan Opera. Wie hat das so frühe Singen am größten Opernhaus der Welt – sowohl von der Sitzplatzkapazität als auch von der medialen Aufmerksamkeit – Sie beeinflusst?

David Leigh/ Foto: Jiyang Chen

DL: Lindemann war eine seltsame Erfahrung. Das ist es für fast alle. Es ist eine Feuertaufe. Es ist nicht einmal so sehr, dass es die Met ist; Lindemann ist eine ganz eigene Erfahrung. James Levine war künstlerischer Leiter des Programmes zu dieser Zeit; es waren seine letzten zwei Jahre. Ich wurde am Tag seines letzten Auftritts als Generalmusikdirektor eingestellt. In meinem zweiten Jahr kam der Boston Globe-Artikel heraus, der zu seinem Grabesgeläute wurde, direkt vor einer Probe, die ich mit ihm haben sollte, also war meine ganze Erfahrung von seinem Abgang flankiert. Es waren monumentale zwei Jahre für die Met selbst und natürlich eine transformative Erfahrung für mich. Ich glaube, es hat gewissermaßen meine ganze Karriere ins Rollen gebracht. Wenn man an der Met ist und für Leute vorsingt, erwarten die, dass man gut ist. Das ist gewissermaßen furchteinflößend, und sehr aufregend. Es lässt einen neu überlegen, wer man als Künstler sein wird. Es war auch der einzige Ort, an dem wirklich jede Stimme, die man hört, unfassbar gut ist. Selbst auf großen internationalen Opernbühnen ist das allgemein wahr, aber nicht genau so konsistent und beeindruckend wahr. Sänger über Sänger, jede Stimme in diesem Programm. Es ist schwer, sich selbst als begabt zu betrachten, aber man sieht seine Freunde und deren Begabung in der Realität reflektiert – das war die wirklich für mich umformende Erfahrung im Lindemann-Programm. Diese unfassbar guten Stimmen dabei zu beobachten, wer sie als Künstler sein würden, war transformativ für mich beim Herausfinden, was für ein Künstler ich sein würde.

OM: Während der Pandemie litten Ihre geplanten Rollendebüts arg an Streichungen und Absagen. Gibt es zukünftige Pläne, Filippo in Don Carlos und Gurnemanz in Parsifal zu debütieren, die beide als Debüts in Ihrem Kalender standen?

DL: Gurnemanz ist eingetragen, in Toronto, aber es wurde bereits zweimal verschoben, also passiert das hoffentlich noch. Es ist die Francois Girard-Inszenierung. Leute meiner Generation sprechen über den [Otto] Schenk-Ring, dass sie geweint haben, als er von der Bühne ging. Es gibt solche Inszenierungen, und wenn der Girard-Parsifal eines Tages weggeht…

OM: …da wird die Welt etwas verloren haben.

DL: Ja. Ich werde ganz schrecklich traurig sein. Es gibt Inszenierungen, wenn sie gehen, kann man nicht glauben, dass sie weg sein sollen. Und Filippo – noch nicht; es gab Anfragen, aber ich hatte keine Zeit. Aber hoffentlich bald!

OM: Stimmliche Entwicklung ist eine trickreiche Sache. Es gibt die Richtung, die man gern einschlagen würde, und die, die man tatsächlich einschlägt. Aber wenn Sie wählen dürften, gäbe es eine Richtung, in die Sie Ihr Repertoire gern entwickeln würden, oder Werke, die Sie im Auge haben?

DL: Ich glaube, ich habe sehr viel Glück mit dem, was ich bisher aufführen durfte – es ist wunderbar, Hagen singen zu dürfen. Ich finde außerdem, das Debüt ist ohnehin nie die beste Version. Auf manche Art habe ich das zweite oder dritte Mal so viel mehr Spaß. Selbst so: die Premiere [der Götterdämmerung] haben wir im Herbst gesungen, und jetzt im Sommer zurückzukommen, fühlt sich wie ein ganz anderes Niveau der Verbindung mit dieser Rolle an, wenn man sich nicht um Kräfteeinteilung und den allerersten Durchlauf sorgen muss.

OM: Das konnte man im Rheingold bereits richtig spüren. Alle sind komplett eingeübt und können wirklich alles geben.

DL: Alles hat sich gesetzt. Gewissermaßen freue ich mich am meisten auf meine zweiten Durchläufe und meine zwanzigsten Durchläufe. Eine der Segnungen der Oper ist, dass die meisten Leute an einem gewissen Niveau dieselben zehn Rollen wiederholt aufführen dürfen, die sie auf sehr tiefe Art kennenlernen. Welche zehn Rollen hätte ich gern für mich? Ich liebe russische Musik, sehr. Ich durfte bereits manche singen, aber natürlich möchte ich Boris [Godunow] singen, und ich liebe Wagner. Ich möchte noch mehr Hagens singen. Ich bin froh, dass mein Kalender gerade nicht voller Hagens ist, aber ich würde gern einen alle paar Jahre singen dürfen und beobachten, wie er sich verändert. Und ich bin sehr erpicht darauf, in einem Parsifal singen zu dürfen. Je mehr ich die anderen Wagners singe, umso mehr denke ich, Parsifal ist – es ist nicht einmal die Oper, all die Opern sind perfekt, aber es ist die Rolle des Gurnemanz. Die Musik ist außerordentlich. Und ich glaube, ich würde gern Strauss singen dürfen. Ich glaube, ich habe viel Glück, dass ich so viel Russisches und Deutsches singen darf; ich glaube, es ist die perfekte Musik für mich. Ich hoffe, das bleibt weiterhin wahr.

OM: An dieser Stelle möchten wir sehr herzlich danken – für dieses wunderbare, ausgiebige Gespräch mit seinen vielen interessanten Gedanken und Denkanstößen. Wir wünschen gutes Gelingen für die Zukunft und senden ein großes Toitoitoi!

 

Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert