„Andererseits …“ – So viel mehr als nur dieses eine Lied – „ANATEVKA“ am Theater Magdeburg

Theater Magdeburg / Andreas Lichtenberger/ ANATEVKA/ Foto @ Kirsten Nijhof

Wenn ich einmal reich wär …“ Ist es nicht genau dieses Lied, gesungen von Shmuel Rodensky oder Ivan Rebroff, das auch Ihnen durch den Kopf geht, wenn Sie nun lesen, dass Anatevka, das Musical von Jerry Bock und Joseph Stein am 4. Mai Premiere am Theater Magdeburg hatte? Und was sagt Tevje, die Hauptfigur in diesem Stück immer, wägt er seine Entscheidungen ab: „Andererseits …“ (Besuchte Vorstellung: Premiere am 4.5.2019)

 

Ja, andererseits überzeugte die gesamte Geschichte um Tevje den Milchmann, der die Traditionen seines Schtetls, seine Frau Golde und seine fünf Töchter liebt, bereits bei der Uraufführung am 22.09.1964 am Imperial Theater am Broadway das Publikum, erwies die Kritik. Denn 1965 gewann Anatevka 9 Tony Awards, unter anderem für das beste Musical, die beste Originalmusik, die beste Choreographie (Jerome Robbins) und die besten Kostüme (Patricia Zipprodt).

Am Theater Magdeburg gelingt Regisseur Eric Petersen mit seinem Team, hinter und auf der Bühne, hier allen voran Andreas Lichtenberger als Tevje, allen Besucher des ausverkauften Hauses, einen mitreißend berührenden Abend zu bieten, der wieder einmal zeigt, dass alte Themen auch heute manchmal noch lange kein alter Hut sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kostümbildner Kristopher Kempf die Personen in moderne Kostüme steckt. Nein, diese sind der Spielzeit im ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhundert durchaus angemessen, wenn auch hier und da etwas fantasievoller gestaltet, als damals üblich. Sie entführen uns mühelos in die Welt der osteuropäischen, der polnischen Juden von damals. Ebenso wie die Bühnenbilder von Anja Lichtenegger. Doch hier beginnt sie schon die Verbindung zwischen Damals und Heute, Theater und Realität. Petersen und Lichtenegger platzieren das Orchester im Bühnenhintergrund, sodass sich der Abstand zwischen Publikum und Bühne verringert. Was besonders in den Tanzszenen oder auch bei Tevjes Selbstgesprächen, intensive Wirkung zeigt. Wenn die Tänzer dort über die Bühne wirbeln, wo sonst die Musiker sitzen, möchte man zwar nicht mittanzen aber doch rhythmisch mitklatschen, so wie es die anderen Künstler tun. Und tatsächlich, trauen einige Mutige sich genau dies.

Und wenn Tevje von einem Spotlight angestrahlt, sich mit seinen humorvoll-klugen Betrachtungen an das Publikum wendet, während alle Anderen im Dunkeln wie eingefroren dastehen, fühlt man sich angesprochen und nickt auch schon mal zustimmend.

Theater Magdeburg / Lichtenberger, Wollrab/ANATEVKA/ Foto @ Kirsten Nijhof

Petersen verzichtet in seiner Personenführung auf Überzeichnungen. Er setzt auf kleine Gesten und überzeugenden Humor statt auf krude Komik, die die Tragik die es auch gibt, übertüncht. Wir finden uns wieder in Golde und Tevje, denen es wichtig ist, drei ihrer Töchter, die im heiratsfähigen Alter sind, gut unter die Haube zu bringen. Es wird uns der Zwiespalt nahe gebracht, der entsteht, wenn der Vater sich schweren Herzen, entschließt, nicht wie üblich auf den Rat der Heiratsvermittlerin Jente zu hören, sondern auf das Herz seiner Töchter, die sich ihre Männer selber wählen. Zeitel, die älteste Tochter, möchte statt des reichen Fleischers, der die Zusage des Vaters schon hatte, lieber ihren Jugendfreund, den Schneider Mottel. Hodel entschließt sich dem Studenten Perchik, der aufgrund seiner revolutionären Ideen nach Sibirien verbannt wird, zu folgen. Nur was die Wahl von Chava, der dritten Tochter betrifft, bleibt Tevje, wenn auch voller Verzweiflung, hart: Denn sie vermählte sich mit Fedja, einem Christen. Auch hier gelingt Petersen eine Lösung, die berührt ohne rührselig zu sein. Denn im Laufe des Stückes, werden auch die Schwierigkeiten, die die Oberen im Zusammenleben zwischen Juden und Christen sehen immer deutlicher. Die Juden müssen ihre Heimat in Richtung Amerika verlassen. Vor der Abreise treffen Vater, Tochter und ungeliebter Schwiegersohn sich wieder, doch anders als im Original, lässt Tevje die beiden unversöhnt ziehen. Es ist ein Ende, das unter die Haut geht, das Petersen da wählte, wenn er Tevje ins Leere sagen lässt: “Kommt Kinder!“ Und dann ein Wachmann, einem einsam spielenden Geiger, mit der Hand auf der Schulter zu verstehen gibt, zu schweigen. Das Licht geht aus, die Bühne bleibt noch wenige Augenblicke offen, de Hoffnung auf doch noch ein Happy End auf der Bühne bleibt unerfüllt. Doch nach wenigen Sekunden der Nachdenklichkeit bricht sich Jubel Bahn. Es wird geklatscht, gerufen, getrampelt und dann folgen im gesamten Haus Standing Ovation.

Und alle haben es verdient: die Folkband Foyal – samt des Geigers – dem das Stück seinen Originaltitel „Fiddler on the roof“ verdankt, und die Echtheit und Lebensnähe vermittelt mit ihren Auftritten, ebenso auch die Magdeburgische Philharmonie unter Leitung von Damian Omansen, der auch beim Domplatz Open-Air am Pult stehen wird. Dann hat er die musikalische Leitung beim Musical Chigaco.  Bei Anatevka jedoch sorgte er für wichtige Akzente an den richtigen Stellen und gab schwungvollen Rhythmen Pep und Lebendigkeit.

Aber auch der Chor und all die Darsteller der kleineren Rollen, ob stumm, tanzend oder singend und spielend sorgten für ein in sich völlig stimmiges Gesamtprodukt.

Herrlich schrullig die Schauspielerin Susi Wirth in der Rolle der Heiratsvermittlerin Jente: Ein Unikum, wie man es heute auch noch hier und da findet, wenn auch leider viel zu selten. Johannes Wollrab gelang es, dem um eine Ehefrau geprellten Metzger Lazar Wolf Profil zu geben. Mezzosopranistin Isabel Stüber Malagamba überzeugt als stille und entschlossene Chava. Sie ist seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied und wird neben Anatevka auch in Werken von Richard Strauss und Richard Wagner zu hören sein. Voller stimmlicher Wärme ist  Ks. Undine Dreißig. Ihre Golde ist voller liebender Mütterlichkeit.

Theater Magdeburg / ANATEVKA/ Foto @ Kirsten Nijhof

Beatrice Reece, die bereits als Tracy Turnblad aus dem Musical Hairspray in einer Tournee-Produktion von sich reden machte, ist eine entzückende Hodel, die sich von einer Träumerin in eine verantwortungsvolle Frau verwandelt und entspricht in alledem, was von einer erfolgreichen und beliebten Musicaldarstellerin erwartet wird.

Jan Rekeszus (Perchik) und Benjamin Sommerfeld (Mottel) entsprechen vollkommen dem Typ „jugendlicher Liebhaber“ und doch sind ihre Stimmfarben voller Wiedererkennungswert und Individualität. Beide haben Charme und strotzen vor Spielfreude. Rekeszus, selbstsicher und forsch und dann aber doch auch jungenhaft verlegen, wenn er sich Hodel offenbart . Sommerfeld auf liebenswerte Weise unsicher. Wunderbar, die Szene wenn er sich wild entschlossen Tevje entgegenstellt oder die endlich ergatterte Nähmaschine präsentiert, die ihm als Schneider wirtschaftliche Sicherheit bringt.

Doch natürlich ist und bleibt er der Held des Abends: Andreas Lichtenberger, der seine Vielseitigkeit unter anderem in der Rolle Albin/Zaza in Ein Käfig voller Narren am Theater Magdeburg bewies. Darstellerisch gehört er zu jenen, die ganz und gar in ihrem Charakter aufgehen, ohne zu übertreiben, und darum stets überzeugend. Er bringt uns mit seinen Witzchen, seinen Zitaten „aus dem guten Buch“ (Bibel), seinen Zwiegesprächen mit Gott, zum Schmunzeln und auch zum Grübeln und seine Zerrissenheit seiner geliebten Tochter Chava gegenüber rührt fast zu Tränen.

Alles in allem ein schöner Abend. Oder, um es wie Tevje zu sagen: Andererseits … Wie schön, dass es so berührendes Musiktheater gibt, das sich aus vollen Herzen bejubeln lässt.

 

  • Eindrücke der Premiere von Birgit Kleinfeld /Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Weitere Termine, Infos und Kartenvorverkauf unter DIESEM LINK
  • Titelfoto: Theater Magdeburg / ANATEVKA/ Foto @ Kirsten Nijhof
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Ein Gedanke zu „„Andererseits …“ – So viel mehr als nur dieses eine Lied – „ANATEVKA“ am Theater Magdeburg

  1. Wir waren gestern zur Aufführung ANATEVKA im Magdeburger Opernhaus.
    Wir können das vorher geschriebene nur bestätigen.
    Wir waren hellauf begeistert zumal uns die Band FOYAL von einem früheren
    Konzert in der Drackenstedter Kirche bekannt war.
    Wir überlegen nun sogar schon, ob wir mit unserer Tochter noch einmal zu einer Aufführung gehen. Sie ist aber nur immer besuchsweise hier in Magdeburg und hat demzufolge nur Samstags Zeit. Na ja, mal sehen.

    Mt freundlichen Grüßen
    D. Müller

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