
Nur ganz selten schaffen Opernregisseure eine Deutung der Werke Richard Wagners, die auch noch nach Jahrzehnten diskutiert wird und die Rezeptionsgeschichte nachhaltig beeinflusst hat. Erinnert sei an die im Weltall spielende Inszenierung von „Tristan und Isolde“ von Ruth Berghaus an der Staatsoper Hamburg, den legendären „Konwitschny-Lohengrin“ in der Schulklasse, oder an so manche Inszenierung der Bayreuther Festspiele, wie etwa der richtungsweisende „Jahrhundert-Ring“ von Patrice Chéreau und Pierre Boulez. Im Jahre 2008 bereitete der norwegische Opernregisseur Stefan Herheim diesen Festspielen die mitunter einschneidendste und viel diskutierteste Deutung des „Parsifals“ aller Zeiten. Nut hat sich ein Jahrzehnt später Stefan Herheim an der Deutschen Oper Berlin an Wagners Magnum Opus, „Der Ring des Nibelungen“, gewagt. Pandemiebedingt musste der Vorabend, „Das Rheingold“, ausfallen und so begann der Zyklus stattdessen mit der „Walküre“. Zugegeben, unser Redakteur Phillip Richter besuchte bereits die dritte Vorstellung und konnte sich inhaltlich auf Stefan Herheims Konzeption vorbereiten, er widerspricht nun den Premierenkritiken, die übereilt ein negatives Urteil fällten. (Besuchte Vorstellung, 4. Oktober 2020)
Stefan Herheim macht es seinem Publikum wahrlich nicht leicht. Um die Konzeption seines Rings zu verstehen reicht die Wikipedia-Zusammenfassung nun einmal nicht aus. Er setzt als Regisseur bei seinem Publikum ein grundlegendes Verständnis von Wagners Libretto, der Leitmotivik und der Rezeptionsgeschichte des Rings voraus, indem er auf vergangene Inszenierungen anspielt, wie beispielsweise jene von Patrice Chéreau. Als „Theater auf dem Theater“ stellt Stefan Herheim um die eigentliche Ring-Handlung herum eine Gruppe Heimatloser, herumirrend oder rastend in einem von Koffer dominiertem Bühnenbild. Diese ziellosen Geflüchteten beobachten zunächst die Szene, werden aber zunehmend in die Handlung mit einbezogen und durchdringen diese mit eigenen Vorstellungen vom Ring-Zyklus. Erst in Retrospektive wird deutlich, dass diese Gruppe die Sage von Siegmund, Sieglinde und Wotan liebevoll nachspielen. Sie studieren Satz für Satz die Partitur und schaffen sich gänzlich unbedarft ein eigenes Bild des Mythos. Herheim gibt dieser Gruppe eine liebevolle Form der Naivität, wie ein Improvisationstheater, das nur wenig von Wagner oder den auf die „Walküre“ folgenden Abenden zu wissen mag. Deutlich wird jedoch, dass diese Heimatlosen sämtliche Hoffnungen auf die Wotanstochter Brünnhilde als Personifizierung der endlichen Freiheit projizieren, von der sie sich mitreißen lassen.

Auf der Bühne sehen wir eine Regie, die immer nur den direkten Moment der Partitur und Musik widerspiegelt, ohne Vorwegnahme der sich anschließenden Szenen: Beispielweise gelüstet es Siegmund und Sieglinde voneinander – so sagt es ja auch die Musik durch sehnsuchtsvolle Motivik – schon im ersten Augenblick, sie küssen sich noch bevor sie sich erkannt haben. Dass dies normalerweise erst nach einer Stunde des gegenseitigen Annäherns in der Geschwisterliebe geschieht, ist dem fiktiven Laienregisseur hier nicht bekannt, so weit hat die Flüchtlings-Theatergruppe Richard Wagners Partitur noch gar nicht studiert.
Überhaupt scheint es nicht nur einen einzigen Regisseur in der Theatertruppe zu geben. Das Konzept ist demokratisch: Wer gerade am Klavier sitzt und in die Partitur schaut, übernimmt zugleich die Spielleitung und gibt mutmaßlich das Geschehen an, zumindest solange, bis ein anderer Charakter ihm oder ihr die Partitur wieder aus den Händen reißt. Wie es in der Oper und insbesondere bei Wagner ebenso ist, gibt es ein wildes Durcheinander: Von einer Brünnhilde die Siegmund retten möchte, einer Fricka, die dies um jeden Preis zu verhindern weiß und einem Wotan der am Ende gar nichts mehr so richtig weiß. Immer im Zentrum steht dabei die Frage: Welche Figur hat eigentlich einen freien Willen und kann er oder sie diesen auch durchsetzen? Bei Herheim erscheint zumindest das Wälsungenpaar fremdgesteuert, denn Sieglinde kommt nicht in den Besitz der Partitur und kann dem Klavier keine Töne entlocken, ihr bleibt der Tastendeckel verschlossen.
Aus dem Libretto der „Walküre“ wird ersichtlich, dass es zu diesem Zeitpunkt noch gar keine richtige Freiheit gibt. In dieser Oper sind sämtliche Figuren, gleich Gott oder Mensch, durch unfreie und vorbestimmte Handlungen gekennzeichnet, teilweise in Selbsttäuschung, denn selbst Wotan als Göttervater kommt zu dem Schluss, er sei ja nur „der unfreieste Aller“! Erst durch die sich anschließende Heldentat von Siegfried, dem Wälsungen-Sohn und „hehrstem Helde der Welt“ wird die endliche Freiheit in Form seiner Vermählung mit Brünnhilde voller Tatendrang und Furchtlosigkeit freigesetzt werden.

Um Herheim zu verstehen muss man unbedarft wie ein Kind oder Jemand, der zum ersten Mal in die Oper geht, die Inszenierung aufnehmen. Der Wagnerianer, welcher zahlreiche Bücher gelesen hat und unzählige Ring-Zyklen in der Oper gesehen hat, muss sich öffnen und Wagners Werk in neuer Naivität betrachten und das Vorwissen der nächsten Szene ausblenden. Gleichzeitig braucht es jedoch zum tieferen Verständnis für Herheims Konzept einen grundlegen Sachverstand der Partitur und des Librettos, sonst werden seine Bezüge und Parallelen nicht ersichtlich. Ein wenig erinnert das Regiekonzept an Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, in welcher der Leser ahnungslos ein Buch öffnet und plötzlich selbst die Fäden in der Hand hält und die Erzählung dominiert. Nur mit dem Unterschied, dass der Wagnerianer eigentlich doch weiß, worauf er sich eingelassen hat.
Da ist es auch nur konsequent, dass einige Bühneneffekte und Requisiten der Inszenierung absichtlich dilettantisch wirken, wir sehen ja eine besondere Form des Amateurtheaters. Beispielhaft sei Wotans bunt-blinkender Speer oder die stereotypische Verkleidung Brünnhildes und der anderen Walküren mit Flügelhelmen genannt. Stellenweise wirkt die Personenregie bewusst überzeichnet und aufgesetzt, die unzähligen Drohgebärden und das Gestikulieren mit Messer und Speer, verbunden mit kitschigen Tanzeinlagen der Solisten, das hat Stefan Herheim sicherlich bewusst ironisiert. Erstaunlich jedoch, wie die Personenregie und die zahlreichen dazu gedichteten Ebenen und Figuren zur eigentlichen Handlung und Musik Richard Wagners passen, gar entlang der Partitur inszeniert sind.
Hinsichtlich der stimmlichen Leistungen beider Sopranpartien kann man nur in Superlativen sprechen! Nina Stemme ist nach wie vor die unangefochtene Brünnhilde der Gegenwart, ihre Stimme saß fest, ihr „Hojotoho“ traf ins Mark, ihre natürliche Bühnenpräsenz blieb unschlagbar eindringlich. Das Sieglinde-Debüt von Lise Davidsen ist gleichermaßen als Sensation zu bezeichnen, denn ihr „O hehrstes Wunder“ erklang einmalig kraftvoll, voluminös und dennoch leicht. Beide Sängerinnen, Stemme und Davidsen, sind unnachahmlich mit einer natürlichen, festen – ja, dramatisch-skandinavischen – Stimme gesegnet, die man heute sonst nur von alten Aufnahmen der 1950er Jahre kennt.

Auch die weiteren vier Hauptpartien waren hervorragend besetzt. Johan Reuter macht sich auf den deutschen Bühnen im Wagner-Fach bedauerlicherweise rar und fungierte hier als Einspringer für den indisponierten John Lundgren in der Rolle des Göttervaters Wotan. Auf der Seitenbühne war er leider akustisch unglücklich platziert, so dass der Klang seiner Stimme nicht voll zur Geltung kommen konnte. Dennoch überzeugte Reuter durch vorbildliche Wortverständlichkeit als zerrissener Wotan. Seine Deklamation und Gefühlsdarstellung zeugte von einem tiefen Rollenverständnis. Der Siegmund von Brandon Jovanovich erklang klangschön und frei fließend. „Singen, singen und bitte nicht aufhören, welch hinreißender Siegmund!“ Mit herrlichem Wagner-Belcanto sorgte Jovanovich für wahre Glücksmomente im Auditorium. Bedauerlich, dass seine Tenorrolle schon noch zwei Akten getötet wird. Andrew Herris war ein einfühlsamer Hunding, der mehr unter seiner gewalttätigen Ehefrau Sieglinde zu leiden schien, als umgekehrt. Annika Schlicht gab eine herrische und selbstsichere Fricka mit strahlenden Spitzentönen.
Der Wagner-erfahrene Donald Runnicles am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin gilt als ausgewiesener Sängerbegleiter und wird von den Solisten hochgeschätzt. Bedauerlicherweise wusste der Dirigent das Potential seines Orchesters diesmal nicht zu nutzen. Mit langsamen Tempi und einer sehr zurückgenommen Lesart wirkte das Orchester auf weiten Strecken schlicht zu passiv und unbeteiligt. Und sobald Runnicles kräftige Akzente setzen wollte, klapperte es im Blech und die klangliche Balance zerbrach. Wünschen wir ihm und seinem Orchester, dass sie im Laufe dieses Ring-Zyklus zu alter, bewährter Form zurückfinden werden.
Dieser neue Herheim-Ring der Deutschen Oper Berlin löst die Kultproduktion von Götz Friedrich aus den 1980er Jahren ab und bewies mit der Premiere der „Walküre“, dass hier etwas ganz Großes entsteht! „Weißt Du, wie das wird?“, fragen sich nicht nur die Nornen in der Götterdämmerung, sondern diskutierten die Besucher auch fleißig in den Pausen. Beim „Herheim-Ring“ greift die Spannung in alle Richtungen und man darf man nicht nur auf die Fortsetzung in „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ gespannt sein, sondern besonders auch auf den Beginn der Tetralogie im „Rheingold“.
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Deutsche Oper Berlin / Stückeseite
- Titelfoto: Deutsche Oper Berlin/ Die Walküre/ Foto @ Bernd Uhlig
Ein Gedanke zu „Weißt Du, wie das wird? – „Die Walküre“ an der Deutschen Oper Berlin“