
Es ist ein Klassiker, aber unter jungen Theaterfans hat Ralph Benatzkys Singspiel Im weißen Rössl nicht den allerbesten Ruf. Das sei doch ein Großelternstück, hört man, wenn man Gleichaltrigen von seinen Wochenendplänen erzählt. Tatsächlich haftet dem Stück eine gehörige Portion Heimatfilm-Kitsch an. In der Inszenierung von Jan Philipp Gloger an der Wiener Volksoper wird der aber schnell als Kulisse enttarnt. Und doch bleibt der Operettenflair erhalten – zum Glück! (Gesehene Vorstellung v. 19. Januar 2025)
Den altbekannten Wolfgangsee-Kitsch gibt es natürlich auch an der Volksoper. Zumindest auf den ersten Blick. Kostümbildnerin Justina Klimczyk setzt auf reichlich Dirndl und Lederhosen, und Bühnenbildner Christof Hetzer hat es sich auch nicht nehmen lassen, das Hotel zum Weißen Rößl in bester Passepartout-Technik zum Leben zu erwecken. Da steht das Hotel also, mit Balkonzimmer, Putzkammer und Lobby, in der die Wirtin schöne altmodische Schlüssel mit riesigen Anhängern ausgibt. Doch all das ist Kulisse; die Idealwelt der Operette gibt es nicht mehr. Bei genauem Hinsehen bemerkt man zum Beispiel von Anfang an, wie sehr die Klimaerwärmung dem Idyll zugesetzt hat: Der Orchestergraben fungiert als Wolfgangsee, die Rückwand ist der Uferkai. Der ist grau und grün und wenig einladend. Ein handgeschriebenes Schild verrät die Wassertemperatur: Über 30 Grad, Tendenz steigend. Im Laufe des Abends kippt das Ökosystem dann, der See stinkt und wird als Badeplatz unbrauchbar. Die Badeszene, die bei der Uraufführung Skandale machte, wird also kurzerhand in die Sauna verlegt.

Nicht allein die zahlreichen Hinweise auf den Klimawandel, dessen Auswirkungen auf Wassertemperatur und -qualität des echten Wolfgangsee sich noch zeigen werden, wirken, bei allem treffsicheren Humor, beklemmend. Auch bei Glogers bissig-akkurater Darstellung von Tourismus und Übertourismus bleibt einem das Lachen im Halse stecken. In der Eröffnungsszene fallen gleich zwei Touristengruppen – der von Roger Díaz-Cajamarca hervorragend einstudierte und herrlich spielfreudige Chor – über das Gasthaus und den Zahlkellner Leopold her. Die Prämisse der englischsprachigen Gruppe? „Europe in 1 week“ – Europa in einer Woche. Es sind amerikanische Touristen; eine Dame trägt eine Kappe mit Donald Trumps Slogan Make America Great Again, was kurz vor Trumps Amtseinführung zwar nicht unbedingt für gute Laune sorgt, aber doch zeigt, wie detailverliebt Gloger und sein Team arbeiten – sind es doch gerade US-Amerikaner, denen gelegentlich nachgesagt wird, dass sie Europa für ein kleines, schnell erkundbares Land halten. Leopolds Lied ist kaum vorbei, da ist die Horde schon in Richtung Ischl abgezogen. So plakativ der Anfang ist, so philosophisch wird das Ende: Der Berliner Tourist Wilhelm Giesecke zitiert eine Schrift Hans Magnus Enzensbergers. Der hat formuliert, dass die authentische Lebenswelt der Bewohner von Touristenregionen doch genau dadurch Kulisse wird, dass Touristen vermeintlich hinter die Kulissen sehen wollen. Ein langer Satz, aber sehr wahr. Gerade in Glogers Weißen Rößl.
Bezeichnend ist dafür die Szene zwischen Wirtin Josepha Vogelhuber und dem Kaiser. Verzeihung: dem „Kaiser“. Glogers Interpretation von Ralph Benatzkys Singspiel spielt im 21. Jahrhundert und Österreich wird demokratisch regiert. Statt Franz Joseph I. erscheint Robert Palfrader am Wolfgangsee, der in der satirischen ORF-Talkshow Wir sind Kaiser jahrelang als Kaiser Robert Heinrich I. Gäste empfangen hat. Im Weißen Rößl spielt der Fernsehstar sich nun selbst, wie er seine Paraderolle spielt. Nicht als Kaiser, sondern als Palfrader, plaudert er mit Josepha darüber, wie sie beide im Grunde immer kostümiert sind und nicht aus ihren Rollen herauskommen: Er mimt den Kaiser in Uniform, sie die Wirtin im Dirndl, die ausschließlich im alpenländischen Dialekt kommuniziert – dabei spricht sie eigentlich perfektes Hochdeutsch. Aber das sind eben die Rollen, in denen die Menschen sie sehen wollen, und die auch das Publikum von Im weißen Rößl auf der Bühne sehen möchte. Viel deutlicher kann man die perfekte Operettenwelt dieses Singspiels nicht hinterfragen.

Palfrader ist nicht der einzige Fernsehstar in dieser Volksopern-Produktion. Als der schwäbische Tourist Prof. Dr. Hinzelmann steht niemand geringeres als Entertainment-Großmeister Harald Schmidt auf der Bühne. Er bekommt natürlich einen Auftrittsapplaus, weil er Harald Schmidt ist. Den Schlussapplaus aber bekommt er wegen seiner schauspielerischen Leistung. Als schwäbischer Tourist bedient er unter der Regie Glogers souverän jedes Schwaben-Klischee, vom mitgebrachten Balkonkraftwerk (um Kosten zu sparen) bis zum idealen Dialekt: authentisch genug, dass sich die deutschen Gäste im Publikum freuen, verständlich genug, dass auch jemand, der im Alltag sonst nicht mit schwäbelnden Menschen konfrontiert ist, mit seiner Figur Spaß haben kann. Den anderen deutschen Touristen, den Enzensberger lesenden Giesecke, hätte eigentlich Götz Schubert spielen sollen, der aber kurzfristig erkrankt ist. Für ihn springt Matthias Matschke ein – auch er dürfte gerade deutschen Fernsehzuschauern ein Begriff sein. Zum Zeitpunkt der Aufführung hat Matschke gerade zwei Tage geprobt, spielt aber auf der Bühne, als seien es drei Wochen gewesen. Ohne eine Spur von Unsicherheit berlinert er sich durch den Abend und füllt die Rolle des schlecht gelaunten Klischeedeutschen perfekt aus. Und dann macht er auch noch in Lederhosen einen Spagat. Das Publikum ist begeistert, spätestens hier ist Matschke der Star des Abends.
Darstellerisch steht das das Sängerensemble den beiden Schauspielern in nichts nach, musikalisch ist die Vorstellung aber nicht ganz ausgewogen. Dafür sind weniger die Sänger verantwortlich – vor allem Oliver Liebl fährt als Schönling Sigismund (mit aufgeklebter Halbglatze) zu Höchstleistungen auf – sondern das nicht optimale Sounddesign. Ausnahmslos alle Sänger:innen sind mikrofoniert, die Gesangsstimmen aber deutlich zu leise eingestellt, sodass man den Gesang zwar hört, die Texte aber vor allem zu Beginn des Abends kaum verständlich sind. Auch deutsche Muttersprachler müssen gelegentlich hilfesuchend zu den englischen Übertiteln hinaufsehe. Hier immerhin positiv anzumerken: es gibt nicht nur eine Übersetzung, sondern auch Erläuterungen für Menschen, die sich nicht mit Schwabenklischees oder österreichischen Talkshows auskennen. Aber man will ja eigentlich doch lieber auf die Bühne schauen. Dass Michael Brandstätter das Orchester zwar lebendig und schwungvoll, aber auch nicht gerade sängerfreundlich-leise dirigiert, hilft der Textverständlichkeit leider auch nicht. Im Laufe des Abends finden Soundteam, Orchester und Ensemble dann zu einer Balance – zum Glück, denn die gesanglichen Leistungen verdienen es, klar gehört zu werden.
Ursula Pfitzner singt eine großartige Josepha Vogelhuber, die auch im Gesang nicht ihren schneidigen Befehlston verliert. Die Singstimme zieht aber mit, als die herrische Wirtin sich in eine verletzlichere, fast schon in ihrem Beruf gefangene Frau wandelt, wird ganz zart und leicht; ebenso bei den Schwärmereien für Dr. Siedler. An Pfitzners Seite glänzt Jakob Semotan als Zahlkellner Leopold. Er singt großartig und geht im ersten Akt so sehr in seiner Rolle als Oberkellner auf, dass es sich für das Publikum genauso merkwürdig anfühlt, wie es für die Figuren im Stück sein muss, ihn ohne Fliege und in Freizeitkleidung zu sehen. David Kerber spielt und singt einen selbstverständlich klischeehaften Rechtsanwalt Dr. Siedler, der sich bei ihm aber doch menschlich-authentisch anfühlt. Die Töchter der beiden deutschen Touristen – die Berlinerin Ottilie und das schwäbische Klärchen – werden von Nadja Mchantaf und Julia Edtmeier souverän dargestellt. Letztere glänzt, wie Harald Schmidt, durch einen grandios gespielten schwäbischen Dialekt, denn auch ihre Rolle ist von Gloger leicht verfeinert worden: Während Klärchen im Original lispelt und damit hadert, schämt sie sich in der Volksopern-Inszenierung für ihr Schwäbeln (und noch mehr für das ihres Vaters).

Von den Touristen aus dem Schwabenländle, über den meckernden Berliner bis hin zum Rechtsanwalt Dr. Siedler: Klischees und Typen gibt es auch in dieser neuen, modernen Inszenierung von Im Weißen Rößl eine ganze Menge. Und am Schluss geht es weder um Klimawandel noch um Übertourismus, sondern darum, dass alle Paare zueinanderfinden: Ottilie und Dr. Siedler, Klärchen und Sigismund, und natürlich Zahlkellner Leopold und Josepha Vogelhuber, die an der Volksoper als erste gemeinsame Amtshandlung das Hotel verkaufen, um endlich das Leben zu führen, das sie schon immer führen wollten. Im Weißen Rössl hört so auch in Glogers kluger und treffsicherer Lesart nicht auf, Operette zu sein, mit allem Kitsch und allen Vorhersehbarkeiten, die man mit dieser Gattung verbindet. Aber gerade darin zeigt sich die Stärke der Inszenierung: Ja, Gloger hat Im weißen Rössl einen neuen, zeitgenössischen Anstrich verpasst, aber ohne ihm das wegzunehmen, wofür das Stück seit seiner Uraufführung vom Publikum geliebt wird. Und so kommt man irgendwo zwischen Lachen und Weinen zur Erkenntnis: Das ist ein Theaterabend, von dem alle etwas haben.
- Rezension von Adele Bernhard / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Volksoper Wien / Stückeseite
- Titelfoto: Volksoper Wien/Im weißen Rössl/Foto: Barbara Pálffy/Volksoper Wien