Oper Köln: „Written on Skin“ – Opernpremiere als Livestream am 1. Dezember 2020

Oper Köln/Written on Skin/ Foto © Paul Leclaire

Mit dieser Produktion der 2012 in Aix-en-Provence uraufgeführten Oper „Written on Skin“ von George Benjamin beweist die Kölner Oper, dass sie immer noch in der ersten Liga spielt. Dirigent Francois Xavier Roth entfaltet mit dem hinter der Spielfläche platzierten Gürzenich-Orchester eine nervenzerreißende Spannung. Die fünf Darsteller*innen sind absolut typgerecht besetzt und singen und agieren einfach grandios. Auf 90 Minuten konzentriert entfaltet sich auf einer kargen Sandfläche ein zeitloses Drama, in dem mehrere Handlungsebenen ineinander greifen. Die Kunstform des Streams, bei dem die Sängerdarsteller*innen in Nahaufnahme gezeigt werden, kommt in diesem Fall dem Genre sehr entgegen, denn es handelt sich um ein vielschichtiges Kammerspiel mit tödlichem Ausgang. Tabubrüche finden weniger in der Musik als in der Handlung statt. (Livestream v.1.12.2020)

 

Grundlage ist eine Geschichte aus dem 13. Jahrhundert: Guillem de Cabestan –  „Le Coeur Mangé“. Eine junge Frau hat ihren älteren Mann mit einem Jüngling betrogen, und der hat, zunächst nichts ahnend, dann aber gedemütigt durch den Klatsch über diese Liebesaffäre, den Rivalen getötet und seiner Frau dessen Herz zu essen gegeben. Damit fühlt sie sich nur noch enger mit ihrem Liebhaber verbunden und stürzt sich in den Tod.

Die notwendige Distanz zu dieser Horrorstory wird durch eine Rahmenhandlung mit drei Engeln hergestellt, die sich Aufgabe stellen, sämtliche technische Errungenschaften der Neuzeit weg zu denken und wieder ins Mittelalter einzutauchen. Dazu holen sie den Protektor und seine Frau Agnés, die im Alter von 14 Jahren mit ihm verheiratet wurde, auf die Bühne. Der erste Engel spielt „The Boy“, der vom Protektor beauftragt wird, ein Buch über die Welt seiner Zeit – „Written on Skin“ – also auf Pergament, das aus Tierhaut hergestellt wird, zu zeichnen.

Zusätzliche Distanz wird dadurch hergestellt, dass die Beteiligten von sich selbst in der dritten Person sprechen („says the Protector“) und dass sogar Regieanweisungen gesungen werden.

Oper Köln/Written on Skin/Dino Lüthy, Judith Thielsen/Foto © Paul Leclaire

Die Kostüme von Adeline Caron lassen keinen Zweifel, dass Agnés und der Protektor im Mittelalter leben. Mit strengem alles verhüllendem Mantel und Kopftuch über dem züchtigen Kleid ist sie die ergebene Ehefrau, der der Protektor befiehlt, den jungen Künstler in seinem Haus zu beherbergen. In dem von „The Boy“ gezeichneten Bild erkennt sie sich selbst, und ihre Sexualität, die sie mit dem jungen Künstler auslebt, erwacht.

Im zweiten Teil schüren Engel zwei und Engel drei den Argwohn des Protektors gegenüber der Wirkung seines Auftragswerks. Der junge Künstler kann mit der Behauptung, er sei in Marie, die Schwester von Agnés verliebt, den Verdacht von Agnés ablenken. Der Protektor will ihre Sexualität nicht sehen, sie soll sein gehorsames Kind sein. Sie aber fordert von ihrem Mann, sie zu befriedigen und von ihrem Liebhaber, die Affäre offen zu legen und sich zu ihr zu bekennen.

Im dritten Teil präsentiert der junge Künstler dem Protektor sein Auftragswerk. Er erklärt die grausamen Szenen von Krieg, Folter, Vertreibung, Gemetzeln. Wo denn das Paradies und die Hölle sei fragt der Protektor. Der junge Künstler reicht ihm ein beschriebenes Blatt Pergament – „written on Skin“ – mit der Beschreibung einer rein triebhaften Affäre, die ihn mit Agnés verbindet. 

Der Protektor bringt den jungen Künstler um und serviert Agnés sein Herz. Dieser kannibalische Akt bringt sie ihrem Geliebten noch näher – sie stürzt sich in den Tod bevor der Protektor sie mit dem Messer umbringen kann.

„The Boy“ verwandelt sich wieder in einen Engel zurück und fängt sie im Fall vom Balkon auf. Sie wird von ihm in ein Sternbild verwandelt.

Der Siegeszug dieser Oper, die 2012 als Auftragswerk des Festival d´Aix-en-Provence in Kooperation mit vier weiteren Häusern (Amsterdam, Toulouse, Florenz und London) uraufgeführt und 2013 „Oper des Jahres“ wurde, wird sicher angesichts der Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie beflügelt werden. Sie eignet sich sehr gut für konzertante Aufführungen (zum Beispiel in der Berliner und in der Kölner Philharmonie 2016), denn die Orchesterbesetzung ist verhältnismäßig überschaubar und abgesehen von wenigen Ausbrüchen eher kammermusikalisch, und es ist ein Fünf-Personen-Stück ohne Chor mit einer Aufführungsdauer von 90 Minuten. Mich erinnert es an „The Rape of Lucretia“ von Benjamin Britten. DAS OPERNMAGAZIN hat berichtet.

Regisseur Benjamin Lazar und Bühnen- und Kostümbildnerin Adeline Caron haben sich völlig von der Inszenierung der Uraufführung in Aix-en-Provence aus dem Jahr 2012 gelöst. Alles spielt auf einer hügeligen Sandfläche, auf die auch die gemalten Bilder projiziert werden. Die Lichtregie von Nicol Hungsberg setzt entsprechende Akzente.

Man ist gefesselt und am Schluss ganz betäubt von dem, was man da gesehen hat. Wegen der pandemiebedingten Abstandsregeln für Künstler*innen kann nie ein körperlicher Kontakt gezeigt werden – alles spielt sich in der Mimik und der Körpersprache der Protagonisten und in der immens spannungsgeladenen Musik ab, die Francois Xavier Roth mit dem Gürzenich-Orchester brillant dirigiert. Roth beweist hier eindrucksvoll, dass er nicht nur Musik des 19. Jahrhunderts gestalten kann, sondern auch ein Experte für Musik der Zeit ist. Margaux Blanchard mit ihrer Viola da Gamba ist als Teil der Handlung am Bühnenrand platziert.

Oper Köln/Written on Skin/ Magali Simard-Galdès/Foto © Paul Leclaire

Magali Simard-Galdès als Agnés ist als Schauspielerin und als Sängerin ein Naturereignis. Wie sie die erwachende Sexualität dieser jungen Frau, das schamlose Begehren, den Tabubruch des lustvollen Kannibalismus zelebriert ist einfach beklemmend, und ihre expressive Gesangsleistung verschlägt einem den Atem. Sie ist absolut  sicher in den gewagtesten Intervallsprüngen (große Dezime, Duodezime) und lyrisch berückend in den Liebesszenen.

Die knisternde Spannung zwischen ihr und „The Boy“ wird durch die illustrierende Orchestermusik noch deutlicher: diese Frau ist scharf auf den Jungen! Und sie ist in ihn verliebt, das sagen Viola da Gamba und Glasharmonika im Orchester.

Oper Köln/Written on Skin/ Cameron Shahbazi/Foto © Paul Leclaire

Cameron Shahbazi als Engel und als „The Boy“ hat mit seinem intensiven und makellosen Countertenor einerseits die Abgehobenheit eines Engels, der nicht von dieser Welt ist, andererseits die Unschuld eines jungen Knaben, der von einer reifen Frau mühelos verführt wird. Er sieht so unverschämt gut aus, dass man spätestens beim ersten Ton, den er singt, von ihm fasziniert ist. Die maximale Fallhöhe wird dadurch erreicht, dass er in seinem „written on skin“ seine ganze Beziehung zu Agnés als triebhafte Affäre denunziert: „We have used and used and used, have used each other as pornography.“

Bariton Robin Adams als „The Protector“ ist die zwielichtigste Figur in diesem Drama. Er hat sich mit Rollen wie Tarquinius (der Vergewaltiger in „The Rape of Lucretia“ von Benjamin Britten) und dem Wanderer (aus Wagners „Siegfried“) profiliert und strahlt auch stimmlich eine ungeheure Dominanz und Souveränität aus. Zunächst angelegt als Beschützer und guter Mäzen – er gibt „The Boy“ den Auftrag: „Make me a book!“ – ist sein Verhältnis zu seiner Frau  ein Machtverhältnis. Er betrachtet sie als seinen Besitz und behandelt sie wie ein Kind. Auf seinen Wunsch nimmt Agnés „The Boy“ in ihr Haus auf.

Oper Köln/Written on Skin/ Robin Adams/ Foto © Paul Leclaire

Mit dem sexuellen Erwachen seiner Frau ist der Protector hoffnungslos überfordert. Ihren Aufforderungen „Touch me! Kiss me! Grip my hair in your fist! Put your fingers into my mouth! …“ kann er nicht folgen, aber mit „The Boy“ kann er sie alle umsetzen und gerät mit ihm in einen solchen Taumel von lustvoller Dominanz, dass er am Ende „The Boy“ die Kehle aufschlitzt, ihn ausweidet und seiner Frau das Herz des Getöteten serviert.

Robin Adams tritt zunächst auf in einem Kostüm wie Sarastro, am Ende in Jeans und Hemd. Sein Interesse ist es, im Buch, das er in Auftrag gibt, positiv dargestellt zu werden. Er ist ein grausamer Machtmensch ohne Empathie. Er wirkt zunächst kontrolliert, aber gerade er begeht den absoluten Tabubruch.

Judith Thielsen als zweiter Engel und Marie entspricht der „female Chorus“ und Dino Lüthy als dritter Engel und John dem „male Chorus“ bei Brittens „Lucretia“, die einerseits die Handlung kommentieren und vorantreiben, andererseits in Nebenrollen schlüpfen. Thielsen als Marie entfaltet  beachtliche erotische Ausstrahlung als Schwester von Agnés. Thielsen und Lüthy sind als Ensemblemitglieder aus dem Internationalen Opernstudio hervorgegangen und singen wie alle anderen mir hervorragender Textverständlichkeit und komplettieren das exquisite Ensemble adäquat.

Das als interaktive Datei herausgegebene Programmheft enthält nicht nur viele herrliche Bilder der Protagonisten von Paul Leclaire, das Libretto von Martin Crimp in der englischen Originalsprache und in der deutschen Übersetzung, sondern auch einen hervorragenden Aufsatz des Dramaturgen Georg Kehren, der das Stück analysiert. Im Gegensatz zum Stream ist das Programmheft noch online verfügbar. Der Livestream war tatsächlich nur live am 1. Dezember 2020 von 19.30 Uhr bis 21.00 Uhr verfügbar. Tickets zum Preis von 0,00 € (Zaungast) bis zu 350 € (erste Reihe Mitte) konnte man in sieben Kategorien kaufen.

Nach der Bezahlung bekommt man per Mail einen Link. Abspielbar ist der Stream auf einem Laptop oder Computer mit Lautsprecher oder auf einem modernen Fernsehgerät mit zusätzlicher Ausrüstung. Ich habe auf einem Laptop mit angeschlossenem 24“-Monitor und einem guten Lausprechersystem gestreamt und war gebannt. Trotzdem wäre ich lieber live dabei gewesen.

Mit diesem ersten Stream der Premiere einer kompletten Oper am 1. Dezember 2020 im Staatenhaus Köln zeigt Intendantin Dr. Birgit Meyer, dass die Zukunft der Oper im Stream ganz andere Chancen eröffnet als die Live-Aufführung, gerade in Zeiten der grassierenden Pandemie. Diese Produktion würde ich sofort als DVD kaufen!

 

 

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