Verrückt nach Marie(tta): „Die Tote Stadt“ im Staatstheater Meiningen

Meininger Staatstheater/Die tote Stadt/Foto © Christina Iberl

Zum ersten Mal in seiner Geschichte gibt das Staatstheater Meiningen in dieser Saison Korngolds bekannteste Oper über Trauer und Obsession. Dabei heraus kommt ein spannendes Stück Theater, das tief in die Geschichte des Witwers Paul eintaucht und neue Gedankenanstöße aber wenig Hoffnung bietet. (Besuchte Vorstellung am 19. November 2022)

 

 

Wie konnte es nur soweit kommen? Diese Frage stellen wir uns, wann immer etwas Schreckliches passiert ist und auch Jochen Biganzoli beginnt schon vor Beginn der eigentlichen Oper des Abends ihr nachzugehen. Ein Unfall. Der plötzliche Tod einer geliebten Person. Ein Verlust, der kaum zu verschmerzen ist. Zu den Tönen des dritten Satzes des elegisch-traurigen Lento religiosos – ebenfalls aus der Feder des Komponisten –  blickt der Regisseur im Video zurück auf das, was vor dem Beginn von „Die Tote Stadt“ steht: Glückliche Zeiten, der schwierige Gang in die Pathologie, der Abschied auf dem Friedhof. Später in einer weiteren Videorückblende werden die Zuschauer:innen erfahren, dass Paul nicht unschuldig am Tod der schwangeren Marie ist, saß er doch am Steuer des verunfallten Wagens.

Meininger Staatstheater/Die tote Stadt/Foto © Christina Iberl

Als die tatsächliche Oper beginnt, hat sich die vormals strahlend helle Wohnung Pauls verkehrt in ein scheinbar endlos schwarzes Nichts. Die schier unendliche Verschachtelung und Dunkelheit spiegeln das Innenleben des Witwers wieder. Erst später gibt das von Wolf Gutjahr ebenso reduziert wie detailfreudig gestaltete Bühnenbild seine wahre Form preis. Der Name jener Frau, die Paul nicht loslassen kann, ist zu erkennen: Marie. Wenig erhellt die Finsternis, lediglich Bilder und Videos der Verstorbenen bieten leichte Farbtupfer. Während der Witwer, selbst schwarz gekleidet, in der Erinnerung an sie ebenso wie in der dunklen Einöde der Bühne fast verschwindet, tritt Marietta als weiße Lichtgestalt in sein Leben. Es ist der Beginn einer Geschichte, die am Ende – im Gegensatz zum Originallibretto – keine Hoffnung findet und zu Pauls selbstgewähltem Tod führen wird.

Dabei dringt Regisseur Biganzoli tief in die Gedankenwelt des Protagonisten ein, zeigt sein Abgleiten von der Traurigkeit in den Wahn und schließlich die Ausweglosigkeit seiner Obsession. In dieser Inszenierung ist Marietta kein Ebenbild, keine Doppelgängerin Maries, sondern eine reine Projektion Pauls. Beide Frauen könnten unterschiedlicher kaum sein: Die zurückhaltend-romantische Marie, die quirlig-fröhliche Marietta. Auch äußerlich haben sie wenig gemein. Folglich werden beide Rollen – im Gegensatz zur Korngolds Original – von zwei unterschiedlichen Sängerinnen verkörpert: Lena Kutzner gibt eine kecke und selbstbewusste Marietta, beeindruckt dabei mit raumgreifender Stimme, klaren Höhen und festen Tiefen sowie einem kraft- wie gefühlvollem Ton. Ihr Gegenüber als persönlichkeitsstarker Geist der Vergangenheit steht Deniz Yetim als Marie. Sie ist nicht nur ständige Erinnerung an die glücklichen Tage in Pauls Leben, sondern übernimmt auch Teile von Mariettas Partie. Yetim gestaltet die Rolle der Besucherin aus dem Jenseits mit dunkel-warmem und zurückhaltendem Glanz. Aus dem starken Kontrast entwickelt sich ein spannendes Zwiegespräch zwischen ihnen beiden. Marietta und Marie rivalisieren, kämpfen und werden am Ende von Pauls Traum beide sterben.

Im Orchestergraben treibt Chin-Chao Lin den Abend voran. Er lässt das Frische der Partitur scheinen, weiß das Orchester zurückzunehmen, es aber ebenso zu Korngolds gewaltigen Höhepunkten zu bringen. Dabei zeigt sich die Meininger Hofkapelle als großartige Unterstützung für die äußerst schwierige Tenorpartie des Paul: Aleš Briscein, kurzfristiger Einspringer für Torsten Kerl, gestaltet hell und schlank mit großer Textdeutlichkeit, seine Stimme klingt metallisch-silbern. Das Ensemble komplettieren Tamta Tarielashvili als stimmgewaltige Brigitta und Tomasz Wija mit seinem dunkel-luftigem Bariton als Frank.

Meininger Staatstheater/Bühne mit Blick aus der Fremdenloge/ © Foto Ed

Die Lebenden und Toten, die Überlebenden und Verstorbenen: „Die Tote Stadt“ in Meiningen ist eine spannende Verdichtung von Bewusstem und Unterbewusstem. Für die phantasmagorischen Auftritte der Schauspielertruppe um Marietta geht es in Meiningen einmal quer durch das Opernhaus. Da singen die Freunde von den Rängen, ihr Gelächter ist von den Fluren zu hören. Ihnen zuzuhören ist eine surreal-immersive Erfahrung. Ihr Handeln ist ebenso psychotisch-träumerisch-krass überzeichnet wie Franks Auftritt im Lack- und Lederoutfit, mit dem er auch in der Berliner Technoclublandschaft nicht weiter auffallen würde. Klare Bruchlinien sind zu erkennen zwischen Traum und Wirklichkeit und doch zeichnen sie alle einen obsessiven Wahn, in dem Paul durch eine Schuldgefühle gefangen ist. Auch durch sein Erwachen findet er kein Ausweg. Während Frank ihn mit sich nehmen möchte, fort aus dem bisherigen Leben, fort aus der toten Stadt, fort von der toten Frau, trifft Paul die Entscheidung, heimzukehren. Heimzukehren zu ihr. Am Ende gibt es kein Glück, das ihm verbleibt. Paul erschießt sich im Kornfeld.

 

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