
Mit dem Doppelabend des Einakters „Der Zwerg“ von Alexander von Zemlinsky und dem Ballett „Petruschka“ von Igor Strawinsky folgt die Oper Köln der Praxis Otto Klemperers auch 100 Jahre nach der Uraufführung am 28. Mai 1922 in Köln. Es geht in beiden Stücken darum, wie die Gesellschaft mit Außenseitern umgeht. Die filigrane hochromantische Musik Zemlinskys wird vom Gürzenich-Orchester unter der Leitung von Lawrence Renes ebenso farbig und kristallklar umgesetzt wie die eher impressionistische rhythmische Musik Strawinskys. Das Bühnenbild nutzt die Weitläufigkeit des Staatenhauses um das Publikum in die Festgesellschaft einzubeziehen. (Rezension der Premiere v. 19.11.2022)
Spannende Kombination von Musikdrama und Tanztheater – zwei Außenseiterdramen begeistern in Köln
„Der Zwerg“ ist ein grausames Märchen, das uns den Spiegel vorhält. Nach der Erzählung von Oscar Wilde: „Der Geburtstag der Infantin“ schrieb der junge Georg C. Klaren das Libretto, das Alexander von Zemlinsky vertonte. Zemlinsky verarbeitete damit seine unerwiderte Liebe zu seiner Schülerin Alma Schindler, der späteren Alma Mahler, einer der führenden Gesellschaftsdamen ihrer Zeit.
Der 18. Geburtstag der Donna Clara, Infantin von Spanien, wird gefeiert. Kathrin Zukowski ist als Influencerin diejenige, die Beauty-Reklame in die Video-Installation spielt und selbst natürlich perfekt gestylt ist. Das Gefolge der Prinzessin, der Damenchor in der Einstudierung von Rustam Samedow, in pastellfarbigen Kleidchen mit blonden Perücken gleich aufgemacht, ihre Zofen mit weißen Hauben, hat sich im Festsaal versammelt. Das Bühnenbild von Pia Dederichs und Lena Schmidt bezieht die Zuschauer als Festgäste mit ein und macht uns alle zu Komplizen. Das groß besetzte Gürzenich- Orchester ist als Teil der Festgesellschaft im Bankettsaal hinter den Tischen der Gäste aufgestellt. Von der Bühne, auf der sich das Drama abspielt, bis in den Zuschauerraum hinein ist ein drei Meter breiter Laufsteg, über den einige Darstellerinnen die Bühne betreten.
Der Haushofmeister Don Esteban, Bass Christoph Seidl in einem rosa-grauen Renaissancegewand und Lockenperücke wie eine Dragqueen, zeigt der Festgesellschaft die Geschenke vor. Das Geschenk des Sultans muss der Festgesellschaft erklärt werden: es sei ein lebender Zwerg, bucklig, verkrüppelt, der nichts von seiner Hässlichkeit wisse, der aber wunderschön singen könne. Man solle sich sein Entsetzen über die Missgestalt nicht anmerken lassen.
Der Zwerg (Burkhard Fritz) tritt ein und singt der Prinzessin ein wunderschönes Lied. Das Getuschel der Hofgesellschaft deutet er als Kompliment. Die Prinzessin will ihm als Belohnung eine ihrer Hofdamen zur Frau geben – Entsetzen ! – und er wünscht sich in seiner Naivität die Prinzessin selbst zur Frau.

Die spielt ein grausames Spiel mit ihm und erklärt, dass sie ihn liebe und schenkt ihm eine weiße Rose. Dann überlässt sie ihn sich selbst und gibt ihrer Lieblingszofe Ghita (Claudia Rohrbach) den Auftrag, dem Zwerg klarzumachen, dass er selbstverständlich als Gatte der Prinzessin nicht in Frage kommt, weil er hässlich ist. Ghita, die Einzige, die für den Zwerg echtes Mitleid empfindet, ist mit der Situation überfordert. Der Zwerg glaubt ihr nicht und hält an seiner Liebe fest. Es kommt, wie es kommen muss: der Zwerg erblickt sich in einem Spiegel und verzweifelt. „Ich will mit dir tanzen und spielen, aber lieben kann man nur einen Menschen,“ so der niederschmetternde Kommentar der Prinzessin.
Burkhard Fritz ist einer der wenigen Tenöre, die diese extreme Partie des Zwergs (Heldentenor mit lyrischem Schmelz und glänzenden Höhen) überhaupt bewältigen können. Umso tragischer, dass er plötzlich indisponiert war und ihm bei den wunderbaren Melodiebögen, die Zemlinsky komponiert hat, die Spitzentöne nicht gelingen wollten. Aber er ist Vollprofi: er nutzte alle Tricks, fing sich sofort und trank aus einem der Gläser der Gäste ein paar Schlucke Wasser, so dass er die verzweifelte Schlussarie souverän ablieferte.
Nach dem Zusammenbruch und Tod des Zwergs entlarvt sich die Hofgesellschaft: alte Frauen mit faltigen Gesichtern (ein Hoch auf die Maskenbildner!) und strähnigen schütteren Haaren. Auch die Prinzessin wird alt und hässlich. Der Zwerg wird als normaler Mann mit dunklen Locken im schwarzen Anzug dargestellt, und es stellt sich die Frage, wer eigentlich definiert, was „hässlich“ ist.
Der Regisseur Paul-Georg Dittrich macht damit darauf aufmerksam, dass wir wohl alle in Zeiten von Photoshop und Schönheitschirurgie schon das Gefühl hatten, dem geltenden Schönheitsideal nicht zu entsprechen, also hässlich zu sein. Als Illustration blendet er Bilder von Beauty-Behandlungen ein. Auch Franz Schrekers 1918 uraufgeführte Oper „Die Gezeichneten“ thematisiert das Schicksal eines entstellten Außenseiters. Das Thema des hässlichen Liebhabers war nach dem ersten Weltkrieg relevant, denn viele junge Männer waren versehrt aus dem Krieg zurückgekehrt. Heute interessiert den Regisseur Paul Georg Dittrich in erster Linie das Verhalten der Gesellschaft zu Außenseitern. Wer stigmatisiert sie? Und wie geht man mit ihnen um? Und welche Kunstgriffe wendet man selbst an, um nicht zum Außenseiter zu werden? Die wirkliche Tragik der Geschichte kommt in der Inszenierung zu kurz, drückt sich aber in Zemlinskys Musik aus.
Die hochromantische filigrane Musik Zemlinskys wird vom Gürzenich-Orchester unter Lawrence Renes sensibel ausgedeutet. Burkhard Fritz hat sich in anderen Partien wie Berlioz-Faust, Korngolds Paul, Hoffegut in „Die Vögel“ als Tenor in glanzvollen Partien profiliert. Die Publikumsfavoritin Kathrin Zukowski als herzlose Prinzessin brilliert im offensichtlich verlogenen Flirt mit dem Zwerg mit schillernden Tönen. Sie ist an Mozartrollen wie Pamina, Konstanze und Susanna gereift und hier in jeder Hinsicht ein Star. Claudia Rohrbach, langjähriges Ensemblemitglied, lebt die anspruchsvolle Rolle der Ghita, die als einzige Mitleid mit dem Zwerg hat, mit tiefem Ausdruck. Ihr reifer lyrischer Sopran rührt zu Tränen.
Vielversprechend ist der noch junge Christoph Seidl als sehr klar artikulierender prachtvoller Bass, der aus dem Ensemble der Oper Essen mit dem Intendanten Hein Mulders nach Köln wechselte. Ich habe ihn in Essen als Graf Waldner (Arabella) erlebt und auch als Fafner im „Rheingold“ in der Kölner Philharmonie und sehe sein großes Talent.

Nach der Pause folgt dem Einakter das suggestive Petruschka-Ballett von Igor Strawinsky. Es ist das erste Handlungsballett für das Ballet of Difference, das dem Kölner Schauspiel angegliedert ist.
Die sensible Choreografie von Richard Siegal macht die Geschichte der belebten Marionette Petruschka, der russischen Version des Harlekins oder Kaspers, erfahrbar. Die fantasievollen Kostüme von Flora Miranda charakterisieren die soziale Stellung der Personen. Die Ballerina tanzt Long Zou, ein Mann im klassischen lila Tutu, kraftvoll und elegant. Die filigrane Tänzerin Margarida Isabel de Abreu Nero mit grünen plissierten Pluderhosen, Marionettenfäden und grünen Haaren ist Petruschka, der/die mit seinen ungewöhnlichen Bewegungen die Choreografie der anderen „Transhumanist*innen“, also Maschinenmenschen, immer wieder konterkariert. Nicolá Martinez mit einem schwarz-roten Trikot verkörpert den selbstverliebten Soldaten. Evan Supple ist der Magier, der die Marionette Petruschka zum Leben erweckt, eine sehr anrührende Szene, ebenso wie Petruschkas Tod, bei der das Abschneiden der Fäden sehr lebensnah gespielt wird.
Petruschka liebt die Ballerina, die Ballerina liebt den Soldaten und der liebt nur sich selbst. Bei einer Schlägerei wird Petruschka getötet. Die plakative Musik Strawinskys tut ihr übriges, man ist gerührt, zumal sich Petruschka im Gegensatz zu den Maschinenmenschen so lebendig und spontan bewegt. Die Geschlechtergrenzen werden aufgehoben bzw. spielen keine Rolle.
Ein ergreifender Abend, der tief berührt.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Köln / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Köln/DER ZWERG Burkhard Fritz /Foto © Paul Leclaire