„Don Carlo“ in Essen beeindruckt auf der ganzen Linie. Robert Carsens Inszenierung fokussiert sich auf das zeitlose Thema der politischen Autorität. Es ist eine bildstarke, ganz in Schwarz gehaltene Inszenierung der wohl politischsten Oper Verdis auf internationalem Niveau. Der unerwartete Schluss nimmt eindeutig politisch Stellung. Carson hat die vieraktige Mailänder Fassung mit dreieinhalb Stunden Aufführungsdauer und der Pause nach der beklemmenden Autodafé-Szene im 2. Akt gewählt. Die von Andrea Sanguineti dirigierten Essener Philharmoniker glänzen mit sattem Verdi-Sound, aus dem Orchestergraben erklingen unerhört brillante Klänge, vor allem der Bläser. Das Ensemble überzeugt auf der ganzen Linie. Carsen spitzt die Handlung zu und dokumentiert die zeitlose Gültigkeit der politischen Aussage. (Rezension der Vorstellung vom 25.03.2022)
Vor der Vorstellung singt der Opernchor, schon in den schwarzen Gewändern, den Gefangenenchor aus „Nabucco“ als Solidaritätsbekundung für die Ukraine.
Das Bühnenbild aus drei Wänden, in denen sich Fenster und Türen öffnen lassen, bei dem aber auch der Raum durch Zwischenwände verkleinert werden kann, von Radu Bouruzescu und die Kostüme von Petra Reinhardt sind konsequent in Schwarz gehalten. Der allgegenwärtige Überwachungsstaat wird durch Fenster verdeutlicht, aus denen die Akteure von Priestern beobachtet werden. Der Garten der Königin wird durch weiße Lilien-Bouquets symbolisiert, die die Chordamen auf dem Boden ablegen. Der Schreibtisch des Königs fährt aus dem Boden hoch. Der Kerker, in dem sich Carlos befindet, wird durch eine Fußfessel symbolisiert. Nur für die Schlussszene im 4. Akt benötigt man eine kurze Umbaupause, weil ca. 20 Särge hereingetragen werden müssen, Vanitas-Symbole wie die Lilien und der Totenschädel auf Philipps Schreibtisch.
Die Oper beginnt mit dem Treffen des Infanten Don Carlos und dem Marquese di Posa, dem Carlos seine Liebe zu Elisabeth, seiner Stiefmutter, gesteht. Der aufgeklärte Idealist und Freigeist Posa rät Carlos, sich für das vom katholischen Spanien unterdrückte protestantische Flandern zu engagieren. Im Garten der Königin entfaltet sich das Eifersuchtsdrama. Das „Schleierlied“ der Prinzessin Eboli schafft spanisches Lokalkolorit, die schwarz verschleierten Chordamen bewegen sich dazu synchron. Posa überbringt Elisabeth einen Brief Carlos mit der Bitte um ein Treffen. Elisabeth gewährt die Bitte und weist Carlos ab, sie sei jetzt seine Mutter. Der eifersüchtige König brüskiert Elisabeth, indem er ihre Vertraute, die Gräfin von Aremberg, vom Hof verweist. Der Marquese di Posa bittet König Philipp, den Vereinigten Niederlanden (Flandern) Gedankenfreiheit, konkret Religionsfreiheit, zu gewähren. Er wirft ihm vor, mit seiner autokratischen Politik nur Friedhofsruhe zu erzwingen. König Philipp, von Posa trotz dessen revolutionärer Ideen sehr eingenommen, warnt ihn vor dem Großinquisitor.
Der Konflikt zwischen dem katholischen Spanien und dem protestantischen Flandern gipfelt in der Autodafé-Szene am Ende des zweiten Akts. Mit großem Aufwand wird König Philipp II. als Nachfolger Karls V. mit den Insignien seiner Macht bekleidet. Den flandrischen Gesandten, die von Sicherheitskräften vorgeführt werden, nimmt man die protestantischen Bibeln ab. Ihr Anführer Don Carlos stellt sich offen mit einem Schwert gegen seinen Vater. Nur der Marquese di Posa, im Loyalitätskonflikt zwischen dem König und seinem Freund Carlos, rettet die Situation, indem er den Prinzen entwaffnet. Er verrät seinen Freund wegen der Staatsräson, opfert sein Leben allerdings später, um Carlos vor der Exekution zu retten. Die protestantischen Bibeln werden verbrannt, und trotz ihrer Bitte um Religionsfreiheit und Unabhängigkeit unter der Regentschaft des Infanten wird die gesamte Delegation exekutiert und der Infant Carlos abgeführt. Dazu jubelt der Chor, und die Stimme vom Himmel preist das Ende der Leiden in Gott. Deutlicher kann man die brutale Durchsetzung der Staatsmacht kaum illustrieren.
Der Rest ist Abgesang: König Philip beklagt, dass Elisabeth ihn nie geliebt habe, die Prinzessin Eboli verflucht ihre Schönheit und bekennt, sie sei König Philips Konkubine gewesen, liebe aber Don Carlo und wolle ihn retten, Posa wird auf Wunsch des Großinquisitors im Gefängnis von einem Mönch hinterrücks erschossen, und Elisabeth und Carlos werden vom König beim letzten Treffen im Kloster San Juste überrascht. Alle scheitern grandios an den ihnen auferlegten Zwängen. Der Schluss überrascht: Der Großinquisitor hilft dem scheinbar getöteten Posa auf, und die beiden gehen zusammen von der Bühne. Am Schluss exekutieren Mönche den König und seine gesamte Familie. Als neuer König wird Posa vom Großinquisitor gekrönt. Es ist der vorweggenommene Sieg der Menschenrechte in Europa, aber ist das im Sinne des Stücks? Und kann man diese Haltung von der katholischen Kirche erwarten?
Die Gefühle der Hauptpersonen hat Verdi in hochemotionale Arien und Ensembles gegossen. Der Preis für den Machterhalt in einem Reich, in dem viele Völker leben, ist der Verlust der Menschlichkeit, die Unmöglichkeit der Gedankenfreiheit und die physische Vernichtung von Andersdenkenden.
Der Dialog des Königs Philipp mit dem Großinquisitor ist ein Kristallisationspunkt der Handlung und ist, auch in der musikalischen Gestaltung, ein weiterer Höhepunkt der Inszenierung. Hier gestalten zwei Bässe der Weltklasse die Unterwerfung des Königs unter das Diktat der katholischen Kirche. „Wenn Gott seinen einzigen Sohn geopfert hat, kann das der König auch,“ so zwingt der Großinquisitor den König, seinen eigenen Sohn exekutieren zu lassen. Karl Heinz Lehner verkörpert die furchteinflößende Gestalt des Großinquisitors mit beklemmender Intensität und großer Tiefe.
Ihm gegenüber steht Ante Jerkunica als König Philip, der an seiner Herrscherrolle zerbricht. Sein großer tiefer Bass füllt das Haus. Auch das tiefe E wird mit voller Kraft gesungen. Im Duett mit Posa zeigt er Menschlichkeit, in seiner großen Arie „Ella giammai m´amo!“ das Eingeständnis seines Scheiterns als Mann und Herrscher, und in seinem Duett mit dem Großinquisitor wird klar, dass er nur eine Marionette des Klerus ist. Tobias Greenlagh (Posa), kurzfristig eingesprungen, steht kraftvoll und stimmschön für die Ideale der Aufklärung, die erst viel später in der französischen Revolution zum Tragen kamen. Das Freundschaftsduett mit Gaston Rivero als Don Carlos begeisterte durch sein Pathos.
Gaston Rivero gibt einen Prinz Carlos, der am Ende des 2. Akts die Auflehnung gegen das unmenschliche System wagt, aber auch den jugendlich-naiven jungen Liebhaber mit berückenden Kantilenen charakterisiert. Er hat den Schmelz eines Verdi-Helden, die Stimme ist allerdings sehr hell timbriert, so dass man, wenn man Domingo oder Kaufmann in der Rolle gewöhnt ist, etwas fremdelt.
Gabrielle Mouhlen, jeder Zoll eine Königin, ergibt sich in ihre Rolle als Faustpfand eines Friedensvertrags zwischen Frankreich und Spanien mit einem ungeliebten deutlich älteren Mann und leidet Liebesqualen, weil sie sich nicht traut, im Überwachungsstaat ihre Leidenschaft für den jungen Prinzen auszuleben. Ihre Stimme ist in der Mittellage etwas schwer und dunkel, aber dafür in der Höhe berauschend schön.
Nora Sourouzian ist die temperamentvolle Prinzessin Eboli, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Sie meistert die unterschiedlichen Anforderungen der Partie souverän. Im „Schleierlied“ sorgt sie mit perlenden Koloraturen für spanisches Lokalkolorit. Dramatische Momente wie die Erkenntnis, dass Carlos im dunklen Garten gar nicht sie gemeint hat, sondern geglaubt hat, es sei Elisabeth, gelingen ihr noch besser. Sie schleudert ihre Reue darüber, die in jeder Hinsicht vorbildliche Königin verraten zu haben, ins Publikum: „O don fatale“.
Die übrigen Rollen sind aus dem Ensemble adäquat besetzt. Der Chor des Aalto-Musiktheaters in der Einstudierung von Jens Bingert mit der Choreographie von Marco Berriel sorgte für Lokalkolorit und entfaltete in der Autodafé-Szene große dramatische Wucht. Die Essener Philharmoniker unter Andrea Sanguineti lieferten dazu einen satten Klangteppich mit ungeheuer spannenden Steigerungen.
Diese Inszenierung auf internationalem Niveau hat durch die Ereignisse in der Ukraine eine dramatische Aktualität gewonnen.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Aalto-Musiktheater Essen / Stückeseite
- Titelfoto: Aalto Theater Essen/DON CARLO/Ante Jerkunica (Filippo II., Mitte), Statisterie, Opernchor/Foto: Hans Jörg Michel