Die diesjährige Festspielpremiere Tristan und Isolde unter der Regie von Thorleifur Örn Arnarsson fällt in eine Zeit der Umbrüche bei den Richard-Wagner-Festspielen: Mit ihrer Vertragsverlängerung als Intendantin setzt Katharina Wagner zahlreiche Neuerungen durch. Zukünftig sollen die Bayreuther Inszenierungen schneller wieder abgelöst werden, gar bis zu zwei Premieren je Festspielsommer soll es geben. Dass dadurch der Bayreuther Werkstatt-Charakter verloren geht, mag besonders für sich immer weiterentwickelnde Erfolgsproduktionen wie Tobias Kratzers Tannhäuser tragisch sein. Für manch andere Inszenierungen auf dem Grünen Hügel ist der künstlerische Verlust durch eine verkürzte Halbwertszeit mitunter gering. Bedauerlicherweise gilt letzteres Urteil auch für Arnarssons Neuinszenierung. Seine Tristan-Konzeption wurde zur Premiere weder beim Publikum noch in den Kritiken wohlwollend aufgenommen. (Rezensierte Aufführung: 3. August 2024 -2. Vorstellung-)
Wagner-erfahrener Regisseur enttäuscht mit szenischem Schrottplatz
Der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson kann eine weltweite Erfahrung als Schauspieldirektor und leitender Regisseur diverser Theater vorweisen. Mit vorangegangenen Wagner-Inszenierungen in Augsburg, Hannover und Karlsruhe bot sein Lebenslauf durchaus Potential, um auch für die Bayreuther Festspiele eine durchdachtes Regiekonzept entwickeln zu können. Nah an Wagners Libretto entlang, verlegt der Regisseur die Handlung von Tristan und Isolde ganz klassisch auf ein Schiff, was in eindrucksvoller Ästhetik mittels Seilen und Tauen zunächst nur angedeutet wird. Im weiteren Verlauf sind Schiffsrumpf als auch das Schiff als späteres Wrack auf der Bühne dargestellt. Arnarsson schuf gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Vytautas Narbutas durchaus stimmungsvolle, wie realitätsnahe Bilder als eine Reise durch die Zeiten. Das trostlos ausgeleuchtete Schiff verkommt zu einem Gefängnis, aus welchem, umgeben durch den endlosen, nachtschwarzen Ozean, kein Entkommen möglich scheint. Dieses Gefängnis birgt jedoch nicht nur den Seelenballast der beiden Protagonisten. Der Rumpf, so wird es der Regisseur im zweiten Aufzug enthüllen, ist gefüllt mit unzähligen Requisiten der menschlichen Weltgeschichte. Diese erscheinen als Spiegelbild und verdoppeln so die persönliche, tragische Vergangenheit Tristans und Isoldes. Beiden ist zusätzlich das Leid und Los der gesamten Menschheit aufgebürdet. Die Leidenserlösung gleicht jener eines Amfortas oder einer Brünnhilde; Tristan und Isolde stehen nicht nur für ihr subjektives Schicksal, sondern bedingen der Erlösung aller. Ein interpretatorischer Gedanke, welcher bei Wagners Weltschmerz durchaus plausibel erscheint.
Bedauerlicherweise geht das Regiekonzept trotz einiger guter Ansätze nicht auf. Wo Bayreuther Regisseure in der Nachkriegszeit mit einem bis dato raren Minimalismus beeindruckten, um den Fokus auf die individuelle, intime Psyche der Titelfiguren zu legen, überfrachtet Arnarsson seine Szenerie gnadenlos. Recht willkürlich platziert er auf der Bühne des Festspielhauses allerlei Kunst und Krempel aus dem Fundus: Ein Globus, Spinnräder, Kunstwerke, Bücher, Zahnräder, Koffer und Gemälde sind darunter. Obgleich das Wimmelbild anfänglich noch eine gewisse Imposanz versprüht, erkennt das enttäuschte Publikum schnell, dass der Regisseur damit keine Geschichte zu erzählen vermag. Sicherlich hat schon so mancher Regisseur – wie beispielsweise Frank Castorf – auch einer überfrachteten Bühne Struktur und Bedeutung beimessen können. In Arnarssons Inszenierung verkommt der zugemüllte Schiffsrumpf zur puren Dekoration und evoziert ein fragwürdiges Horror Vacui. Wer Tristan und Isolde eigentlich sind, wo sie herkommen und was ihre Ziele sind, verschweigt all der Tand und Plunder. Die Solist*innen singen mangels versierter Personenführung weitestgehend verloren an der Rampe – oder spielen eben sich selbst. Solch ein Ausstattungs-Regiekonzept mag in einem mittelgroßen Mehrspartenhaus durchaus akzeptabel sein, dem intellektuellen Anspruch des Bayreuther Publikums wird dies jedoch nicht gerecht.
Ausnahme-Isolde neben routiniertem Tristan
Die Isolde von Camilla Nylund ist eine Sensation und kann als Höhepunkt der diesjährigen Festspiele bezeichnet werden. Die finnische Sopranistin hat in intensiver Vorbereitung und auf ihrem stimmlichen Zenit ihre Karriere nun im hochdramatischen Wagnerfach verfestigt. Zuletzt debütiert sie gar als Brünnhilde im Ring-Zyklus am Opernhaus Zürich. Mit versierter Gesangstechnik entwickelte Nylund die Partie der Isolde aus dem lyrischen Fundament ihrer Eva und Elsa heraus und wuchs in dieser Aufführung über sich hinaus. Ein ausgearbeitetes, abgerundetes und perfektioniertes Rollenporträt aus einem Guss: Um die Grenzen ihrer Stimme bewusst, dennoch sicher in sämtlichen Registern und mit klaren, satten Klangfarben bei ergreifender Deklamation sucht diese Isolde wahrlich ihresgleichen.
Die Konditionen und Verlässlichkeit des österreichischen Heldentenors Andreas Schager können die Bayreuther Festspiele nicht genug würdigen. Er gilt seit einigen Jahren als sichere Bank für jeden Festspielsommer und singt meist zwei bis drei der umfangreichen Wagnerpartien. Und doch wurde der Eindruck diesmal getrübt: Schagers forsche, ungestüme, stets vorandrängende Art mit gelegentlich sehr freier Auffassung hinsichtlich Phrasierung und Intonation mögen als reiner Tor Parsifal oder Jung-Siegfried sicherlich beeindrucken – dem geläuterten und weltabgewandten Charakter des Tristans im dritten Aufzugs konnte er damit jedoch nicht gerecht werden, so wirkte er selbst in seiner Todessehnsucht noch zu vital und vordergründig. Im ausufernden Liebesduett erklang gar ein Ungleichgewicht. Schagers hell-leuchtende, stahlkräftige Heldentenorstimme wollte sich dem zarten, sehr kontrollierten und einfühlsamen Ansatz von Nylunds Isolde nicht so recht fügen.
Christa Mayer verkörperte mit dieser Aufführungsserie die Partie der Brangäne in ihrer dritten Bayreuther Inszenierung. Sie bewies sich mit ihrer herb-charakterstarken, aus vollen Registern schöpfenden Mezzostimme als sichere wie zuverlässige Begleiterin der Isolde. Olafur Sigurdarson gestaltete mit starker Bühnenpräsenz einen etwas herben, autoritären Kurwenal. Günther Groissböck bewies als König Marke seine Gestaltungskunst und die Fähigkeit, die vielseitigen Emotionen seiner Partie im Monolog konzentriert in Klangfarben zu wandeln.
Semyon Bychkov glänzt mit weich-fließender Symphonik
Nach seinem umjubelten Parsifal (2018 und 2019) kehrte Semyon Bychkov mit dieser Neuinszenierungspremiere zurück in den Graben des Bayreuther Festspielhauses. Er wählte für sein Dirigat einen durchaus langsamen, meditativen Ansatz, welcher mehr aus dem philosophischen Gehalt der Dichtung Wagners und weniger aus einer Theaterdramatik inspiriert schien. Bychkov gelang es, große Bögen zu spannen und diese bewusst immer wieder zerfließen zu lassen, dabei in natürlichen Übergängen die gelösten Fäden in ihrem Klimax wieder zusammenzuführen. Sein Sich-verlieren-Lassen in der Partitur wurde für die beiden Titelpartien eine hörbare Herausforderung. Jedoch konnte nur so die besonders in der großen Liebesnacht berührende, organisch aus der Tiefe ansteigende, impressionistische Klangmagie entstehen.
In Summe wirkte diese Aufführung trotz zahlreicher Lichtblicke zu unausgeglichen: Stimmen, Dirigat, als auch das Regiekonzept klafften in ihrer Art zu stark auseinander und vermochten sich nicht zu einem Wagnerschen Gesamtkunstwerk fügen. Es bleibt zu hoffen, dass Katharina Wagners Neukonzeption der Bayreuther Festspiele durch häufig wechselnde Inszenierungen nicht den Fokus verliert und auch die Regie – nach dem inkohärenten Schwarz-Ring, dem weit hinter den Erwartung zurückgebliebenem VR-Parsifal und diesem überfrachteten Tristan – wieder zu mehr „Klasse statt Masse“ findet.
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Bayreuther Festspiele 2024 / Stückeseite
- Titelfoto: Bayreuther Festspielhaus, Südansicht, 2016. © El Grafo / CC-BY-SA-4.0, Quelle: Wikimedia