Oper Bonn: Wagners „Meistersinger“ begeistern als deftige Komödie mit Tiefgang

Theater Bonn/MEISTERSINGER/Tobias Schabel, Mirko Roschkowski/Foto: © Bettina Stoess

Mit mehreren erfolgreichen Rollendebuts eröffnete die Bonner Oper ihre Spielzeit 2024/25 am Tag der Deutschen Einheit mit Richard Wagners einziger Komischen Oper, die „Meistersinger von Nürnberg“.  Regisseur Aron Stiehl hält den Bonnern den Spiegel vor. Er macht aus den Meistersingern die Mitglieder eines Karnevalsvereins, tonangebende Bürger, die in der frühen Bonner Republik das Brauchtum pflegen. Joachim Goltz als Beckmesser bekam Szenenapplaus mitten im zweiten Akt, Tobias Schabel profilierte sich als melancholischer, der Liebe entsagender Hans Sachs, Mirko Roschkowski als besonders stimmschöner romantischer Stolzing und Manuel Günther als spielfreudiger David. Das große Ensemble mit insgesamt 28 Solopartien, dem 90-köpfigen Chor und Extrachor und dem Beethoven-Orchester unter der straffen, leichtfüßigen Leitung von Dirk Kaftan überzeugte auf der ganzen Linie und bekam im ausverkauften Haus nach jedem Akt und erst recht am Schluss stürmischen Applaus. (Rezension der Premiere v. 3. Oktober 2024)

 

Als vor der Ouvertüre das Nürnberger Parteitagsgelände mit dem prangenden Hakenkreuz auf der Leinwand erschien, erschallte ein zaghafter Buh-Ruf und ein hörbares Stöhnen des Publikums, als dann aber die Sprengung des Hakenkreuzes über dem Nürnberger Parteitagsgelände durch die Amerikaner am 22. April 1945 gezeigt wurde, war man beruhigt und genoss die Komödie.

Mit den Kostümen von Timo Dentler und Okarina Peter im Stil der 50-er Jahre und im Bühnenbild von Okarina Peter, das einen historischen Gemeindesaal darstellt, stellte Stiehl die rheinischen Vereinsmeier dar, alles Individualisten und skurrile Typen. Hans Sachs ist hier – wie könnte es anders sein? – der Sitzungspräsident und Vereinsvorsitzende, Beckmesser ist der Schriftführer alias Merker, die Meistersinger bilden den Elferrat. Sachs beschwört in seiner großen mitreißenden Festrede das, was die Bürger der Stadt zusammenhält, die Liebe zu Brauchtum und Kunst. 1950 wurden Prinz Karneval und Bonna erstmals seit 1939 wieder gestellt, und der traditionelle Rosenmontagszug ging mit Festwagen und Blaskapellen, Bonner Stadtsoldaten und Bonner Ehrengarde wieder durch die Straßen der provisorischen Hauptstadt Bonn.

Theater Bonn/MEISTERSINGER/Tobias Schabel, Chor und Extrachor des Theater Bonn/Foto: © Bettina Stoess

Die Meistersinger sind hier ein Karnevalsverein. Der Festwiesenszene wird kurzerhand zur Prunksitzung in einem Gemeindesaal umgewidmet, bei der die Zünfte als choreographierte Tanzgruppen auftreten. Das Regelwerk des Festkomitees Bonner Karneval ist mit dem der Meistersinger durchaus vergleichbar. Unter anderem dürfen Karnevalsveranstaltungen ausschließlich in der Session vom 11. November bis Aschermittwoch stattfinden, sicher nicht am Johannistag, dem 24. Juni. Ich erinnere mich an zahllose Skandale, die daraus entstanden, dass Redner und Sänger sich im Ton vergriffen. Der große Festaufzug auf der Bühne gab dem 90-köpfigen Chor und Extrachor der Bonner Oper zu strahlendem C-Dur als jubelndes Volk aufzutreten. Die Meistersinger gehören zum alten Mittelstand: Handwerksmeister wie der Schuster Hans Sachs, der Goldschmied Veith Pogner oder der Bäckermeister Fritz Kothner. Anders Sixtus Beckmesser, Stadtschreiber, den ich der akademischen Dienstklasse zuordnen würde, und als Außenseiter Walther von Stolzing, verarmter Adeliger und Lebenskünstler, der mit dieser Truppe nichts im Sinn hat, sich aber um Evas wegen den Bedingungen des Vaters fügen möchte, und der singt wie ein Gott.

Die Ouvertüre geht nahtlos in einen christlichen Choral über. Hier landet man in der Kirchenchorprobe im Gemeindesaal, wo Walther von Stolzing Eva zum ersten Mal begegnet. Stehende Ovationen des Publikums schon nach dem ersten Akt, auch für das Regieteam, das mit der Verlegung des Nürnberg des 16. Jahrhunderts in den Karneval des Bonn der frühen 50-er Jahre den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Es ist eine Absage an alle Problematisierungen der letzten Jahre. Die alten Nazis sind tot, die Symbole wie das Hakenkreuz gesprengt und verboten. Allerdings fallen am Ende des zweiten Akts Paneele von der Wand und enthüllen alte Reichsadler. Feindbilder sind jetzt politische Akteure der Neuzeit wie Donald Trump, Vladimir Putin, Alice Weidel, Marine Le Pen und Giorgia Meloni, die als spukende Pappköpfe während der Prügelfuge auftauchen, Identifikationsfiguren sind große Deutsche wie Goethe, Martin Luther, Thomas Mann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Hilde Domin – rund 100 Namen großer Deutscher wurden von den Chorsängerinnen und Sängern auf Papptafeln zum Schlusschor hereingetragen, bei dem sich die Singenden im Zuschauerraum verteilten. Der Chor wurde hervorragend textverständlich einstudiert von André Kellinghaus, bis 2024 Chorleiter der Semperoper Dresden.

Es ist Wagners einzige Komödie, die er nach „Tristan und Isolde“ und vor „Siegfried“, der „Götterdämmerung“ und „Parsifal“ schrieb, die am 21. Juni 1868 in München uraufgeführt wurde.  Diese Oper zeigt in besonderer Weise, wer wir sind, nämlich eine bürgerliche Gesellschaft, die wichtige Positionen nach dem Leistungsprinzip besetzt, wie die Prüfungsszene in der Singschule und der Wettbewerb um Evas Hand auf der Festwiese beweist. Deren Protagonist, der Schuster Hans Sachs, hat von 1494 bis 1576 tatsächlich gelebt und mehr als 6000 Werke hinterlassen. Hans Sachs war zweifellos einer der bedeutendsten Dichter seiner Zeit und Verfechter der Reformation, geriet aber in der Barockzeit in Vergessenheit. Die Figur des Hans Sachs wurde von Wagner aufgegriffen, weil er in seinen Opern deutsche Identität anhand deutscher Protagonisten zeigen wollte. Deutsche und russische Könige und Fürsten sprachen damals Französisch, Deutsch war die Sprache des gemeinen Volks.

Theater Bonn/MEISTERSINGER/Tobias Schabel, Anna Princeva/Foto: © Bettina Stoess

Tobias Schabel war ein nachdenklicher, aber auch etwas schalkhafter Sachs, der dem blutleeren Pedanten Beckmesser übel mitspielte. Mit Anna Princeva als Eva hatte er die emotionalste und subtilste Liebesszene am Anfang des dritten Akts. Die große Partie stand er souverän und stimmschön durch, und seine Entsagung hat mir das Herz zerrissen. Seine Stimme ist ideal für die Partie, die eigentlich zu tief für einen Bariton und zu hoch für einen Bass ist.

Der im französischen Fach erfahrene Mirko Roschkowski debütierte in Bonn stimmschön und ausdrucksstark als Stolzing. Sein lyrisch und emotional vorgetragenes Preislied mit den großen melodischen Bögen, das sich so auffallend von den engen Gesängen der Meistersinger abhebt, und das sich im Verlauf der Oper formte, war ein für mich Paradebeispiel für den demokratischen Prozess, der verschiedene Interessen integriert und innovative Problemlösungen findet. Roschkowski wächst immer mehr in das Heldenfach hinein und war zweifellos die Identifikationsfigur des Publikums, das sich wie Stolzing im strengen Regelwerk der Meistersinger zurechtfinden musste. Eine Partie, die Wagnerianer mit den besten Heldentenören der letzten Jahre kennen, ist immer ein Wagnis, aber Roschkowski hat das Publikum voll überzeugt. Warum er fast wie ein Clown mit gestreifter Hose, jeckem Hut und schwarz lackierten Fingernägeln auftreten musste, erschließt sich mir allerdings nicht.

Heldenbariton Joachim Goltz gab der Figur Beckmesser die Würde des gestandenen Beamten in den besten Jahren, dem die Durchsetzung der Regeln über alles geht. Immer korrekt gekleidet mit Sakko, Schlips und Kragen, ist Beckmesser von seiner Eignung als Ehemann einer viel jüngeren Frau überzeugt und merkt gar nicht, dass in seinem Werbelied von Liebe keine Rede ist. Er ist Wagners Projektionsfläche für den Kritiker Eduard Hanslick, seinen Erzfeind, der Wagners Musik nie verstanden hat. Goltz gibt genau den Pedanten und Erbsenzähler, der in vielen Teams vorkommt, ohne zur Karikatur zu werden. Er bekam nach dem Vortrag seines ursprünglichen von Sachs gestörten Werbelieds an die in der Intendantenloge stehenden vermeintliche Eva mitten im zweiten Akt Szenenapplaus. Das habe ich bei Wagner noch nie erlebt.

Pavel Kudinov ist ein nobler Pogner mit sonorem Bass, der mit großer Zuneigung an seiner einzigen Tochter hängt. Umso bedeutsamer ist seine Bedingung, dass er sie nur an einen Meistersinger verheiraten will. Auch er entsagt. Das zeigt, wie eminent wichtig ihm seine Kunst ist. Anna Princevas wundervoll leuchtender lyrisch-dramatischer Sopran kommt im Quintett im dritten Akt besonders gut zur Geltung. Sie und Mirko Roschkowski sind wieder – wie in „Lohengrin“ – das Traumpaar der Oper, obwohl sie kein großes Liebesduett zusammen haben. Djamilia Kaiser ist Evas Amme, Davids künftige Meisterin, die in dem überirdisch schönen  Quintett mit Sachs, Eva und Stolzing im dritten Akt, bei dem die Zeit stehen bleibt, nachdem sich die Paarbeziehungen geordnet haben, die Mezzopartie beisteuert. David Manuel Günther glänzt durch enorme Spielfreude und stimmschönen leicht ironischen Vortrag des Regelwerks. Dass in der Ehe Davids mit Magdalene die Fetzen fliegen werden, kann man sich denken, als er mit einer jungen Chordame schäkert und ihn die Lehrbuben warnen, Magdalene schaue zu.

Theater Bonn/MEISTERSINGER/Ensemble; Chor, Extrachor und Statisterie des Theater Bonn/Foto: © Bettina Stoess

Die Ausstattung der Karnevalssitzung mit dem Aufzug der Zünfte mit ihren Kapellen und Kostümen stellte Timo Dentler und Okarina Peter vor eine echte Herausforderung.  Die Uniformen der Karnevalisten, die Kostüme der Funkenmariechen, vor allem das Bonna-Kleid Evas, rot statt weiß, waren so aufwendig und liebevoll den echten nachempfunden, dass man Verständnis dafür hat, dass die normale Alltagskleidung der Mitwirkenden aussah wie aus der Alt-Kleider-Sammlung gezogen.

Richard Wagner war ein glühender Verfechter der Deutschen Einheit, die am 18. Januar 1871 mit der Krönung des preußischen Königs Wilhelm I. als deutschem Kaiser Wilhelm I. in Versailles nach dem von Preußen und seinen Verbündeten gewonnene Krieg gegen den französischen Kaiser Napoleon III. besiegelt wurde. Wagner war Befürworter eines starken Bürgertums unter der Herrschaft eines Kaisers, die vielen Fürstentümer der Kleinstaaterei seiner Zeit lehnte er ab.

Richard Wagner hat von seinem „Tannhäuser“ eine Pariser Fassung in französischer Sprache verfasst, die am 13. März 1861 mit Pauken und Trompeten an der Pariser Opera Garnier durchgefallen ist. Die Rivalität der beiden Nationen – Frankreich mit seiner Hauptstadt Paris galt im Bereich der Oper als weltweit tonangebend – und Deutschland, das aus lauter Kleinstaaten bestand, dessen führender Opernkomponist Wagner war, wirft auch Schatten auf den Monolog des Sachs: „Ehrt eure deutschen Meister …“. Vermutlich war es Wagners Verbitterung über sein Scheitern in Paris, das ihn Sachs harte Worte von „welschem Dunst und welschem Tand“ in den Mund legen ließ.

Die wundervolle Johanna Welsch, die die Beckmesserharfe auf der Bühne spielte, hatte es nicht verdient, dass sie ständig von den Lehrbuben belästigt wurde, und auch die Papierflieger, die bei der Chorprobe im ersten Akt durch den Raum flogen, fand ich übertrieben. Es war mir etwas zu viel Klamauk, der von wichtigen Inhalten ablenkte, aber grundsätzlich eine sehr gelungene kurzweilige Komödie.

Im Hinblick auf die enorme Länge der drei Akte hat man die Pausen auf jeweils 40 Minuten ausgedehnt und kommt auf eine Aufführungsdauer von rund sechs Stunden. Der Caterer bietet im Foyer Brötchen mit Nürnberger Rostbratwürstchen an, um die Gäste vor dem Hungertod zu bewahren, übrigens zum Preis von 5,00 €, 33% billiger als Bayreuth. Es war ein so schöner Opernabend, dass ich mir für zwei weitere Vorstellungen schon Karten gekauft habe. Den Besuch kann ich nur empfehlen.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Bonn / Stückeseite
  • Titelfoto: Theater Bonn/MEISTERSINGER/Mirko Roschkowski, Chor des Theater Bonn/Foto: © Bettina Stoess

 

 

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