„24 Hebel für die Welt – Berichte aus der Winterreise“ öffnet neue Perspektiven beim Bonner Beethovenfest

Beethovenfest Bonn/24 Hebel für die Welt/ Foto: © Beethovenfest Bonn

Es gibt wohl kaum einen Liederzyklus, der häufiger aufgeführt und eingespielt wurde als Schuberts „Winterreise“, die er kurz vor seinem Tod im Alter von 31 Jahren am 19. November 1828 fertigstellte. Die zu Grunde liegende Gedichtsammlung des Gymnasiallehrers Wilhelm Müller, die Schubert vertonte, kann als Prototyp romantischer Gedichte über Liebesleid und Todessehnsucht gelten. Sie wurden durch Schuberts Musik unsterblich. Behinderte als Performer*innen kommen in der klassischen Musik eigentlich gar nicht vor, was damit zu tun hat, dass es einen hohen Perfektionsanspruch an Klassik-Stars gibt. Unter dem diesjährigen Motto des Beethovenfestes „Miteinander“ hat Steven Walter die mixed-abled Musiktheaterproduktion „24 Hebel für die Welt – Berichte aus der Winterreise“ vom inklusiven Kölner Kulturunternehmen Un-Label in die Bonner Brotfabrik eingeladen. (Gesehene Vorstellung am 1. Oktober 2024 in der Bonner Brotfabrik)

 

Von der Winterreise existieren unzählige Fassungen, zum Beispiel für hohe Männerstimme, tiefe Männerstimme, Frauenstimme, mit Begleitung durch ein historisches Hammerklavier, einen Konzertflügel, Streichquartett, mit Klaviertrio und die komponierte Interpretation von Hans Zender mit kleinem Sinfonieorchester. Sie wird mitunter, zum Beispiel von John Neumeier, auch als Ballettmusik verwendet.

Das lyrische Ich des Wanderers ist ein Antiheld, der von der Gesellschaft ausgegrenzt nur auf sich selbst bezogen eine verlorene Liebe beklagt und in eine tiefe Depression mit Todessehnsucht und Wahnvorstellungen verfällt. Schuberts Musik schildert anschaulich die Zerrissenheit des Wanderers, der sich immer mehr von der Realität abkehrt. Die Wanderung durch die eiskalte Winterlandschaft ist eine Metapher für die Ausweglosigkeit, Einsamkeit und Kälte, die er in seinem Leben empfindet.

Schon der Blick in das Programmheft verhieß eine neue Erfahrung: Anne Leichtfuß hat die meisten Texte des Dichters Wilhelm Müller in leichte Sprache übersetzt, so dass auch Menschen, die sich mit der Lyrik der Romantik nicht auskennen, sofort verstehen, worum es geht. Bei Bedarf wurde ein Programm mit den Texten in Braille-Schrift ausgehändigt.

Beethovenfest Bonn/24 Hebel für die Welt/ Foto: © Beethovenfest Bonn

Die 24 Lieder waren auf einen wesentlichen Kern reduziert, die Melodie angedeutet und vereinfacht, der Text häufig gesprochen und nicht gesungen, mit Geräuschen untermalt oder mit Video-Projektionen bebildert. So zupfte Performer Leonard Grobien die Speichen seines Rollstuhls „auf den Tönen h und C“, wie er sagte. Die Sängerin Barbara Schachtner zeichnete die Abstraktion eines Totenackers oder Wirtshauses, die von einer Handkamera auf die gebogene weiße Leinwand projiziert wurde. Oder die vier spielten Menschen, die sich aneinander festhalten und gegen einen starken Sturm stemmen.

Zu Beginn beschrieb man mit aus dem Off gesprochenen Worten die Bühnenausstattung: ein Klavier auf einem rollbaren Podest mit offen liegenden Saiten, eine gebogene weiße Leinwand, auf die häufig ein Auge projiziert wurde, ein Modell der Bühne. Dann stellten sich Toni Ming Geiger, Pianist und musikalischer Leiter, Leonard Grobien, Rollstuhlfahrer und Performer, Jonas Relitzki, Performer „mit schleppendem Gang“ und Barbara Schachtner, ausgebildete Sängerin, aus dem Off vor und beschrieben ihr Aussehen. Bei den Aufführungen am 10. und am 11. Oktober in Köln soll es auch eine Übersetzung in Gebärdensprache geben. Beide Aufführungsorte sind relativ klein (keine 100 Plätze) und barrierefrei zugänglich.

Was hier erreicht wurde, ist mit den üblichen Kriterien einer Konzertkritik nicht zu bewerten, denn ein zeitloses Werk des Klassik-Kanons wurde von außergewöhnlichen Künstler*innen so aufbereitet, dass auch Sehbehinderte und im Klassik-Genuss unerfahrene Besucher*innen verstanden, worum es geht: eine verlorene Liebe und eine Entwurzelung, eine Vereinsamung, die in Wahnvorstellungen mit Todessehnsucht übergeht. Fatal ist, dass dem Wanderer sogar die Erlösung durch den Tod verweigert wird, denn mit dem Leiermann geht das Elend von vorne los.

„Das diesjährige Motto ‚Miteinander‘ des Beethovenfestes 2024 wird gelebt mit einer spannenden Produktion. Nicht, weil unbedingt demonstriert werden soll, dass Inklusion im Blick ist. Die Künstler*innen des mixed-abled Ensemble haben sich die 24 Lieder der Winterreise genau angeschaut und bearbeitet, ohne jedoch den Charakter zu verändern und in leichte Sprache übersetzt. Das Ensemble aus Menschen mit und ohne Behinderung zeigt, dass Franz Schuberts Winterreise sich auf interessante Weise mit dem Thema Inklusion in Verbindung bringen lässt. Die Winterreise ist eine Erzählung von Isolation, Schmerz und Ausgrenzung. Der Wanderer, der sich auf den Weg durch eine kalte, feindselige Landschaft macht, fühlt sich verloren und entwurzelt – er ist von der Gesellschaft ausgeschlossen und befindet sich in einem ständigen inneren Kampf. Dieses Gefühl der Entfremdung und Einsamkeit spiegelt die Erfahrungen vieler Menschen wider, die in unserer heutigen Gesellschaft nicht inkludiert werden – sei es aufgrund von Behinderung, Herkunft, sozialem Status oder anderen Merkmalen. Inklusion bedeutet, diesen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie dazugehören, dass ihre Erfahrungen, Wünsche und Bedürfnisse gesehen und berücksichtigt werden. Die Melancholie und die emotionale Tiefe, die Schubert in seiner Winterreise einfängt, erinnern uns daran, wie wichtig es ist, Empathie zu entwickeln und Strukturen zu schaffen, die Ausgrenzung verhindern. Der Wanderer steht sinnbildlich für diejenigen, die sich am Rande der Gesellschaft befinden. Inklusion könnte man daher als den Versuch verstehen, diesen ‚Wanderern‘ eine Gemeinschaft zu bieten, in der sie nicht mehr allein sind und in der sie aktiv teilhaben können. Inklusion bedeutet, den ‚Weg der Winterreise‘ gemeinsam zu gehen, statt Menschen in ihrer Isolation und Kälte zurückzulassen. Schuberts Werk lehrt uns, die inneren Kämpfe und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu erkennen – und Inklusion bietet den Rahmen, in dem diese Sehnsucht erfüllt werden kann.“

Das ist das Fazit, das Thomas Spitzer, der den Abend mit mir erlebt hat, in den sozialen Medien (Linkedin) geteilt hat. Er ist Coach, Blogger und Experte für Inklusion und Diversität. Mit dem Rollstuhl unterwegs gehört er zu den 3% der Menschen, die von Geburt an eine Behinderung haben (angeborene Querschnittlähmung). Als ausgebildeter Coach berät Unternehmen, die sich auf den Weg machen, inklusiver zu werden. Er unterstützt Einzelpersonen mit und ohne Behinderung bei der Bewältigung von Veränderungsprozessen (beruflich, privat)  https://gemeinsaminklusiv-thomasspitzer.de/.

Jonas Relitzki war der naive Wanderer, der seine Gefühle und Reflektionen authentisch mittelte. Wie er das Scheitern seiner Liebe erzählte, über seine vom Schnee grauen Haare und sein Alter grübelte und die anderen einbezog, war ganz große Kunst. Man hatte das Gefühl, hier spielt einer sich selbst und empfindet in dem Augenblick genau das, was er ausspricht. Leonard Grobien war da schon etwas reflektierter und machte sich zum Beispiel über die Herstellung von Bühnentränen lustig. Hin und wieder spielte er auch ein paar Takte auf dem Klavier oder auf der Gitarre.

Regie führte Friederike Blum. Die musikalische Leitung hatte Toni Ming Geiger, ausgebildeter Pianist, der die musikalischen Grundmotive auf dem Klavier spielte und zum Beispiel „Am Brunnen vor dem Tore“ als Text rezitierte und in seiner Erläuterung der Bedeutung als Ausdruck der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat interpretierte. Mit ausgebildeter Singstimme sang Barbara Schachtner wichtige Takte einiger Lieder.

Beethovenfest Bonn/24 Hebel für die Welt/ Foto: © Beethovenfest Bonn

Der Anspruch dieser Performance ist die Reduktion und Illustration des Liederzyklus auf wesentliche Aspekte.  Es entstand eine Interpretation, die man auch ohne Vorkenntnisse verstanden hat. Ich habe darin die Darstellung der Gefühle des Liebeskummers, der Zerrissenheit, der Verlassenheit und der Vereinsamung mit leicht verständlichen Mitteln gesehen. Schlüssel dazu ist die Methode „Aesthetics of Access“, bei der die erforderlichen Schritte zur Konzeption der Darstellung wie Übertragung in einfache Sprache, Übersetzung in Gebärdensprache, Beschreibung des Bühnenbilds und der Darstellenden, Einsatz von behinderten Mitwirkenden und illustrierende Bilder oder Choreografien zum essentiellen Bestandteil des Kunstwerks gehören. Solche Elemente nehmen eine ästhetisch gleichberechtigte Position zu den klassischen Mitteln des Theaters (Text, Körper, Stimme, Licht, Bühnenbild, Kostüm etc.) ein und erweitern die Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht nur für Seh- und Höreingeschränkte.

Noch mehr als bei der Umsetzung mit anderen Instrumenten oder Stimmlagen, als ursprünglich vorgesehen, entsteht dadurch ein eigenständiges Kunstwerk, das einen ganz anderen Charakter hat als die Originalversion für hohe Männerstimme und Hammerklavier. Seit ich 1978 die „Winterreise“ mit dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und Wolfgang Sawallisch am Flügel erlebt habe, lässt mich dieser Liederzyklus nicht mehr los. Ich war als junge Frau von der Aussage so verstört, dass ich 37 Jahre lang keine Winterreise mehr sehen wollte. Ich erlebte eine komponierte, vom Betroffenen bildstark beschriebene akute Depression mit Todessehnsucht, die mich emotional richtig fertig gemacht hat – totale Empathie erzeugt! Dabei stand der Sänger im Frack unbeweglich am Konzertflügel, und es wurde alles durch den Text und die Musik gesagt. Das nächste Mal erlebte ich 2015 in der in der Bonner Oper eine Interpretation des Jugendchors mit Tenor, Klavier, Cello, Harfe und Saxophon, bei der 20 der 24 Lieder mit verteilten Rollen, Kostümen, Video-Projektionen und eingestreuten gesprochenen Spielszenen choreografiert aufgeführt wurden. Der Zweck war eindeutig: Jugendliche an der Aufführung zu beteiligen, ein Gedanke, der sinngemäß auch bei „Aesthetics of Access“ eine Rolle spielt. Seitdem bin ich süchtig nach diesen „schaurigen Liedern“, wie Schubert sie selbst beschrieb, und gewinne jeder Interpretation neue Facetten ab.

Die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben hat Verfassungsrang, nicht nur für Bedürftige, auch für Behinderte. Das erklärt auch, dass die Produktion von der Stadt Köln, vom Land NRW, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie von der „Aktion Mensch“ gefördert wurde. Die „24 Hebel für die Welt“ können ein leichter Einstieg in die „Winterreise“ auch für Menschen sein, die noch nie einen Liederabend besucht haben. Es ist einfach eine gute Performance, deren Besuch ich sehr empfehlen kann. Im Orangerie-Theater, Köln, wird es am 10., 11. und 12. Oktober 2024 weitere Vorstellungen geben.

Mehr dazu: https://www.orangerie-theater.de/programm/24-hebel-fuer-die-welt-berichte-aus-der-winterreise/

 

  • Artikel von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Titelfoto: Beethovenfest Bonn/24 Hebel für die Welt/ Foto: © Beethovenfest Bonn

 

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