Der Fluch der Rache: „Elektra“ in der Kölner Oper

Oper Köln/ELEKTRA/Ensemble/Foto © Matthias Jung

Man erlebt die Erfüllung einer Obsession, die in Vernichtung endet. Elektra und ihre Mutter Klytämnestra sind die weiblichen Protagonistinnen einer durch und durch dysfunktionalen Familie. Den Gatten- und Königsmord Klytämnestras an Agamemnon, dem siegreichen Feldherrn des trojanischen Krieges, will seine Tochter Elektra unbedingt gerächt wissen. Wie eine Rachegöttin ist sie nur auf Vergeltung fixiert, denn ihr Vater Agamemnon, in der Musik durch ein Fanfarenmotiv allgegenwärtig, ist der Mann ihres Lebens. Regisseur Roland Schwab lässt die Sängerinnen und Sänger in einer düsteren Vorhalle des Königspalasts in Mykonos mit zahlreichen quadratischen Säulen, die an ein Parkhaus erinnern, spielen und ermöglicht durch seine kluge Personenführung, dass alle an der Rampe singen können. Wie in seinem Bayreuther „Tristan“ entstehen großartige Effekte durch Licht. (Rezensierte Vorstellung: Premiere am 3. Oktober 2024)

 

Hugo von Hofmannstal hat in „Elektra“ die griechische Tragödien-Trilogie der Orestie des Aischylos auf geniale Art fokussiert. Das Theaterstück von 1903 hat Richard Strauss 1905 in Berlin mit der Expressivität seiner Worte, aber auch der szenischen Darstellung in der Inszenierung von Max Reinhardt stark beeindruckt. Er hat es mit nur kleinen Abänderungen zu seiner Oper „Elektra“ verarbeitet. Besonders interessierte ihn der Moment, an dem die Sprache an das Ende ihrer Möglichkeiten kommt, wenn Elektra in orgiastische Tänze des Triumphes verfällt. „Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir!

Mit großem Orchester in die Tonalität sprengender Tonsprache wurde das Meisterwerk am 25. Januar 1909 in Dresden uraufgeführt und trat seinen Siegeszug um die Welt an. In diesem Einakter ist ein wesentlicher Teil der Orestie, die den Übergang von der individuellen Rache zum Rechtsstaat mit dem Gewaltmonopol des Staates schildert, auf 110 spannende Minuten konzentriert. Richard Strauss steigert die Kraft des gesprochenen Wortes durch Musik, die in dieser grellen Intensität mit einem 116-köpfigen Orchester bis dato nicht erklungen ist. Richard Strauss hatte schon in seinen sinfonischen Dichtungen bewiesen, dass er ein Meister der Verdichtung ist. Es braucht keine historischen Kostüme, denn das Stück ist zeitlos.

Elektra wird von ihrer Mutter wie ein Tier gehalten. Die fünf Mägde klatschen darüber, dass Elektra jeden Abend um ihren ermordeten Vater Agamemnon weint. Ihre Mutter Klytämnestra und deren Liebhaber Aegisth, die sich in Agamemnons zehnjähriger Abwesenheit während des trojanischen Kriegs als Regenten von Mykonos eingerichtet haben, erschlugen den heimgekehrten Agamemnon kurz nach seiner Rückkehr aus dem Krieg mit einem Beil im Bad. Tochter Elektra, schwer traumatisierte Augenzeugin des Blutbads, hat die Mordwaffe an sich genommen und wartet auf die Rückkehr ihres Bruders Orest, der den Mord am Vater mit diesem Beil rächen soll. Das flammende N auf ihrem schlichten Kittel steht für Nemesis, die Rachegöttin. Niemand hat die giftige Atmosphäre ungerächter Schuld so plastisch in Musik gefasst wie Richard Strauss. Klytämnestra fürchtet sich vor der Rückkehr ihres Sohnes Orest als Rächer des erschlagenen Agamemnon. Sie ist vor Angst panisch und hat das Gefühl, von innen heraus von einer giftigen Pflanze aufgefressen zu werden: „Ich habe keine guten Nächte,“ erst recht, nachdem Elektra ihr ankündigt, nur ihr eigener Tod könne sie von dieser Panik erlösen. Aber Orest scheint tot zu sein, wie Boten berichten. Klytämnestra triumphiert. Vergebens versucht Elektra, ihre Schwester Chrysothemis zu überreden, die Rache an Klytämnestra und deren Gatten Aegisth mit ihr zusammen zusammen auszuführen, aber Chrysothemis will von Rache nichts wissen. Sie möchte heiraten und Kinder gebären und die Vergangenheit vergessen.

Oper Köln/ELEKTRA/Allison Oakes, Insik Choi/Foto © Matthias Jung

In einem großen Aufruhr der Dienerschaft betritt ein Fremder den Hof. Es ist der auch von Elektra nicht erkannte Orest, der die Botschaft verbreitet, Orest sei von seinen eigenen Pferden erschlagen worden. Als Elektra ihn erkennt, ist sie am Ziel ihrer Wünsche. Nichts ist ihr wichtiger, als den nach 20 Jahren wiedergefundenen Bruder als Werkzeug ihrer Rache zu instrumentalisieren. Orest erschlägt seine Mutter Klytämnestra – die komponierten Beilhiebe und ihre markerschütternden Todesschreie gellen durch das Haus. In Panik verziehen sich die Mägde in ihre Kammern. Aegisth trifft Elektra allein an. Sie führt eine freundliche Konversation mit ihm und stranguliert ihn mit einem Seil. Auch hier weicht Schwab von der Vorlage ab, denn auch Aegisth wird eigentlich von Orest oder von seinem Pfleger umgebracht. Das Volk feiert Orest und Chrysothemis als rechtmäßige Herrscher von Mykonos, Elektra bricht in ihrem Freudentaumel ekstatisch tanzend tot zusammen. In Roland Schwabs Deutung richtet Orest sich selbst, und Chrysothemis bleibt allein zurück. Sie ist das einzige überlebende Kind Agamemnons, das sich nicht schuldig gemacht hat.

Näher ist niemand der klassischen griechischen Tragödie gekommen als Richard Strauss mit seinem expressiven Sprechgesang der Protagonist*innen, in dem das Orchester Handlungsträger ist. Keine Oper von Richard Strauss ist größer besetzt, in keiner anderen wird eine so modernere, die Tonalität sprengende Tonsprache verwendet. Schon bei den ersten Takten ist klar, dass es um Agamemnon und dessen Tod geht. Elektra liebt ihren Vater abgöttisch und ist als Zeugin seiner Erschlagung, Klytämnestra ist als Täterin durch ihre Schuldgefühle schwer traumatisiert.

Die Reduktion der Trilogie auf die Rache an Klytämnestra und Aegisth wirft die Frage auf, wie es weitergeht. In der griechischen Trilogie folgt die Aufarbeitung der Schuld des Orest in der Bestellung eines zwölfköpfigen Gerichts, in dem das Recht auf individuelle Rache gegen den Mord bewertet wird. Orest wird mit knappster Mehrheit freigesprochen. Es ist die Begründung des Gewaltmonopols des Staates. In der Fassung von Roland Schwab schlitzt sich Orest die Kehle auf und richtet sich für den Muttermord selbst, einzig Chrysothemis bleibt als rechtmäßige Regentin übrig. Aber Elektra hat den Boden mit Brandbeschleuniger getränkt, und der ganze Palast geht in Flammen auf.

Die Bühne von Piero Vinciguera stellt die Vorhalle des Palasts in Mykonos dar und erinnert an ein düsteres Parkhaus mit zahlreichen quadratischen Säulen, an denen senkrechte stabförmige Leuchten hängen. Grelle Lichtblitze flammen mitunter auf und blenden die Zuschauer. An den beiden vorderen Säulen hängen zwei dicke Seile, mit denen Elektra Aegisth erdrosselt. Faszinierend ist die Lichtregie von Andreas Grüter. Die Kostüme von Gabriela Rupprecht drücken in besonderer Weise die soziale Stellung der Personen aus. Während Elektra und die Mägde schlichte schwarze Kittel tragen, ist Chrysothemis in ein transparentes cremefarbenes Prinzessinnenkleid gehüllt, und Klytämnestra trägt Königspurpur, das in Pink übergeht, mit langer Schleppe.

Oper Köln/ELEKTRA/Astrid Kessler, Allison Oakes/Foto © Matthias Jung

In ihrem Rollendebut als Elektra  erwies sich Allison Oakes als eine Ausnahmesängerin, deren hochdramatischer Sopran selbst das riesige Orchester scheinbar mühelos übertönte und mit strahlenden Spitzentönen der psychopathologischen Besessenheit Elektras Ausdruck verlieh. Ihre ergreifende Schilderung der Bluttat an Agamemnon weckte Empathie und Verständnis für ihre Haltung. Sie erkennt im Gespräch mit ihren 20 Jahre lang verschollenen Bruder, dass sie ihr Leben für ihre Rachephantasien aufgegeben hat. Mit der Rache an Klytämnestra und Aegisth ist ihr Leben erfüllt.

Astrid Kessler als Agamemnons jüngere Tochter überzeugte in ihren Rollendebut auf ganzer Linie. Die Verschiedenheit der Schwestern war perfekt ausgedrückt durch die Kleider: schwarz für Elektra, cremefarben transparent für Chrysothemis, die die Bluttat ihrer Mutter und ihres Stiefvaters vergessen und „ein Weiberschicksal“ haben möchte.

Oper Köln/ELEKTRA/Lioba Braun, Allison Oakes/Foto © Matthias Jung

Lioba Braun hat die Klytämnestra schon an zahlreichen großen Häusern dargestellt und verlieh den morbiden Todesängsten und Schuldgefühlen der alten Gattenmörderin intensiven Ausdruck. Ihr Dialog mit Elektra zeigt zwei starke skrupellose Frauen auf Augenhöhe. Insik Choi als düsterer Heimkehrer Orest mit noblem Bariton musste erkennen, dass seine Schwester Elektra ihr Leben als schöne Königstochter verpasst hatte und zum psychopathischen rachsüchtigen Monster verkommen war. Charaktertenor Martin Koch war der eitle Geck Aegisth, Komplize Klytämnestras, der von Elektra heimtückisch erdrosselt wurde. Die übrigen Rollen waren aus dem Ensemble hochkarätig besetzt, der Chor von Rustam Samedov kommentierte aus dem Off als Volk.

Der Dirigent Felix Bender, seit 2020/21 GMD in Ulm, erzeugte mit dem links platzierten riesig besetzten Gürzenich-Orchester – prangendes Blech, satte Streicher, zwei Harfen – eine ungeheure Spannung.

Roland Schwab hat eine zeitlose psychoanalytisch deutbare Geschichte einer dysfunktionalen Familie gezeichnet, die den Schluss nahelegt, dass die Vergeltung von Gewalt durch Gewalt keine Lösung ist. „Es ist der ewige Fluch der Rache, die nichts als Opfer hinterlässt, der Rache, die ihre „Vollbringenden“ nicht befreit, sondern seelisch tötet,“ so Roland Schwab im Programmheft. Das Gewaltmonopol des Staates ist eine Lösung, die an die Stelle der individuellen Blutrache getreten ist. Auf eine entsprechende Lösung im Verhältnis zwischen Staaten warten wir immer noch vergebens.

Ein packender Opernabend, der in seiner Intensität unter die Haut ging. Unbedingt sehenswert!

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Köln / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Köln/ELEKTRA/Allison Oakes/Foto © Matthias Jung
Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert