In seinem Beitrag zum Programmheft der Bonner Neuinszenierung des Lohengrin erhebt Regisseur Marco Arturo Marelli die Forderung, Wagners Oper von dem Ballast zu befreien, der ihr durch die Rezeption vor allem im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zugewachsen ist. Lohengrin, so Marelli, fungierte als „Projektionsfläche für nationalistisch orientierte Gemüter, in deren Köpfen das Werk eine seltsame Melange aus Volk, Staat, Mythos anrührt.“ (Rezension der Premiere v. 4.11.2018)
Lohengrin, so Marelli, fungierte als „Projektionsfläche für nationalistisch orientierte Gemüter, in deren Köpfen das Werk eine seltsame Melange aus Volk, Staat, Mythos anrührt.“ Für Marco Arturo Marelli steht der Erlösungsgedanke ganz im Zentrum des Werks: die „Erlösung der Welt durch Kunst“. Lohengrin ist demnach der absolute, reine Künstler, er gehört einer nicht irdischen Sphäre an, verkörpert das entrückte Ideal, das sich Elsa in Gestalt des Gralsritters in religiös-träumerischer Verzückung herbeisehnt. Doch die Verwirklichung dieser Utopie misslingt tragisch, scheitert an den realen Verhältnissen, nicht zuletzt weil Lohengrins Forderung nach unbefragter Liebe Elsa Übermenschliches abverlangt.
Im Einheitsbühnenbild, das der Regisseur selbst entworfen hat, sind denn auch beide Pole deutlich voneinander unterschieden. Schon bei den Klängen der Ouvertüre sieht man im Vordergrund auf einem schräg gestellten weißen viereckigen Postament Elsa mit ihrem Bruder Gottfried vor dem Bett träumerisch betend knien, während im Hintergrund, in magisch blaues Licht (Lichtregie: Marco Arturo Marelli) gehüllt, der erträumte Erlöser an einem Klavier erscheint, das auf einem ebenfalls schrägen, nun aber kreisrunden Sockel steht. Eine Ritterrüstung mit dem Schwanenrittermantel verweist auf die Gralssphäre, der Lohengrin entstammt. Während Elsa ins Gebet versunken ist, erscheint wie eine dea ex machina Ortrud und entführt den in einem Bilderbuch blätternden Knaben. Ein paar Federn, die sie ausstreut, deuten auf das Kommende hin. Als Lohengrin Elsa beim Gottesurteil zu Hilfe kommt, erscheint Gottfried in Schwanengestalt, wird von Lohengrin gleichsam inkorporiert und im Flügel vor den Augen der Anwesenden versteckt. Auch er gehört der überirdischen Welt der Kunst an.
Elsa wird durch das Verschwinden Gottfrieds aus allen Träumen herausgerissen. Marelli zeichnet sie als eine fast kindliche, naiv religiös-schwärmerische, reine, aber auch hilflose und zutiefst von Zweifeln geplagte junge Frau, die an den Zumutungen, die ihr Lohengrin auferlegt, zerbricht. Dafür findet Marelli eindrucksvolle Bilder, etwa wenn Elsa im 2. Akt Ortrud ihre goldene Kette mit dem Kreuz zur Versöhnung schenkt und Ortrud dieses Geschenk nach Elsas Weggang voller Verachtung zerreißt. Christliche und vorchristliche Welt prallen unversöhnlich aufeinander. Als Ortrud Elsa das Gift des Zweifels ins Herz gegossen hat, da muss Lohengrin seine Braut geradezu zur Trauung im Münster zerren. Fast panisch, innerlich aufgewühlt und gebrochen sieht sie der Zeremonie der Eheschließung entgegen. Damit ist das Unheil, das im 3. Akt seinen verhängnisvollen Verlauf nimmt, bereits vorgezeichnet. Elsa zerbricht an Lohengrins unmenschlichem Frageverbot, sie stirbt „unter den Trümmern ihrer gescheiterten Utopie“ (Marelli im Programmheft).
Es ließen sich noch zahlreiche weitere kluge Regieeinfälle auflisten – z.B. die Verhöhnung Telramunds durch die Hochzeitsgesellschaft -, insgesamt bleibt bei dieser Inszenierung aber doch der Eindruck einer gewissen Unentschiedenheit haften. Mittelalterliche Symbole (z.B. Fahnen im 3. Akt) und mittelalterliche Kleidung (Königsmantel König Heinrichs, mittelalterliche Kostüme der Fanfarenspieler) konkurrieren mit martialischer Wehrmachtsausrüstung des Heeres, das Lohengrin in den Krieg führen soll, und entziehen die Handlung so einer klaren historischen Verortung. Marelli verzichtet dann eben doch nicht ganz auf eine kritische Abrechnung mit den deutschtümelnden, nationalistischen Akzenten der Oper. Im dritten Akt fallen meterlange Speere vom Himmel und bohren sich bedrohlich in den Bühnenboden. Lohengrin zieht sich aus dieser Welt zurück. Zum Schluss sieht man ihn wieder während der Gralserzählung an seinem Klavier, er zieht sich den Schwanenrittermantel an und macht sich aus dem Staub, König Heinrich und seine Mannen ratlos zurücklassend. Dann erscheint Gottfried im Schlafanzug. War alles also doch nur ein Traum?
Musiziert wird in Bonn auf hohem Niveau. Mirko Roschkowski singt einen wunderbaren Lohengrin. Sein lyrischer Tenor hat in den letzten Jahren deutlich an Ausdruck und Strahlkraft hinzugewonnen. Er teilt sich die Partie klug ein, singt den ersten und zweiten Akt in vielen Passagen eher lyrisch, aber immer herrlich phrasierend und voll tenoralem Schmelz, um dann im 3. Akt groß aufzutrumpfen. Seine Gestaltung der Gralserzählung wird so zum eigentlichen Höhepunkt des Abends. So differenziert im Ausdruck und in den Spitzentönen mit enormer Leuchtkraft hat man den Gralsritter lange nicht mehr auftrumpfen hören. Roschkowski braucht jedenfalls den Vergleich mit Sängern wie Klaus Florian Vogt oder Piotr Beczala nicht zu scheuen.
Anna Princeva als Elsa spielt und singt die Kindfrau, die sie nach dem Regiekonzept verkörpern muss, mit nie nachlassender Intensität und Leidenschaft. Ihr eher lyrische Sopran hat es in den Ensembleszenen zwar schwer, sich durchzusetzen, besticht aber ansonsten durch makellose Stimmführung, herrliche Piani und leuchtende Spitzentöne. Dshamilja Kaiser gibt ein flammendes Portrait der Ortrud und singt sich mit ihren trompetenhaften Racheschwüren in die Herzen des Bonner Publikums. Zu Recht wird sie wegen ihrer stimmlichen Brillanz von den Besuchern im ausverkauften Haus stürmisch gefeiert.
Pavel Kudinov überzeugt als König Heinrich, auch wenn es seinem Bass an Tiefe und Schwärze fehlt. Dafür bereitet ihm die für einen Bass sehr hoch gelegene Partie mit seiner baritonal eingefärbten Stimme überhaupt keine Schwierigkeiten. Dunkler, aber nicht eben schöner klingt Tómas Tómasson als Friedrich von Telramund. Aber um Stimmschönheit geht es bei der Figur des Telramund nicht und so zeichnet auch Tómasson ein eindrucksvolles Bild dieses von seiner Frau angestachelten selbst ernannten Rächers und Widersachers Lohengrins. Ivan Krutilov als Heerrufer, der geschäftsmäßig und mit Aktentasche ausstaffiert den Handlungsverlauf steuert, reiht sich gut in das exzellente Sängerensemble ein.
Chor und Extrachor des Theaters Bonn (Marco Medved) sowie das Ensemble des Kinder- und Jugendchores des Theater Bonn (Ekaterina Klewitz) bewältigten die hohen Anforderungen, die diese Oper an die Chorsängerinnen und Chorsänger stellt, mit Gänsehaut fördernder Bravour. Schließlich verdient der GMD der Bonner Oper, Dirk Kaftan, ein besonderes Lob. So differenziert, klangschön und sauber (Bläser!) hat man das Beethoven Orchester Bonn lange nicht mehr gehört.
Das enthusiasmierte Publikum feierte Sänger, Dirigent und Regieteam mit lang anhaltendem, frenetischem Beifall. Und das völlig zu Recht!
Artikelübernahme/Rezension der Premiere v. 4.11.2018 von Norbert Pabelick/ DER OPERNFREUND – Vielen Dank an unsere Freunde von DER OPERNFREUND!
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- Titelfoto und alle weiteren Fotos: Theater Bonn/LOHENGRIN/Fotos @ Thilo Beu