„Ohne ein Ende kein Anfang“ – „Faust“ von Gounod in der Oper Köln als Live-Premiere gefeiert

Oper Köln/FAUST/Anne-Catherine Gillet, Young Woo Kim/Foto @ Bernd Uhlig

„Ohne ein Ende kein Anfang“ – „Faust“ von Charles Gounod in der Oper Köln als Live-Premiere am 5. Juni 2021 gefeiert

Musikalisch absolut erstklassig und szenisch überzeugend entwickelt Dirigent Francois Xavier Roth mit Regisseur Johannes Erath eine bildstarke Collage des „Faust“, die die Frage Fausts nach dem Sinn des Lebens aufwirft. Gounods Urfassung mit gesprochenen französischen Dialogen enthält viel mehr Goethe als die weltweit gespielte Grand Opéra. Marguerite, herausragend verkörpert von Anne-Catherine Gillet, wird in ihrem christlichen Glauben zur eigentlichen Gegenspielerin Méphistos. Der Dirigent spricht Mephistos Sprechtexte, zu denen Samuel Youn herrlich teuflisch skrupellos agiert und singt.(Rezension der Premiere vom 5.6.2021)

 

Am Anfang sieht man ein EKG und den alten Faust in einem Krankenrollstuhl. Zu den Klängen von „Avant de quitter ces lieux“ („Da ich nun verlassen soll …“) in der Ouvertüre flacht die Linie ab, Faust ist tot. Im Moment des Sterbens zieht sein ganzes Leben in freien Assoziationen an ihm vorbei.

Keine Architektur-Kulissen, nur ein paar Hospitalbetten, sechs bewegliche Wände mit je einem teilbaren runden Ausschnitt, parallel dazu Bewegungen auf Laufbändern – die Personen agieren nebeneinander, aber bleiben wegen der Corona-Vorschriften auf zwei Metern Abstand voneinander.

Der Chor der Oper Köln, 2020 mit dem „Oper! Award“ für den besten Opernchor geehrt, singt von der Seite aus dem Off. Man sieht den Chordirektor Rustam Samedov die Sängerinnen und Sänger dirigieren. Die Szene wird Corona-bedingt auf der sehr breiten Bühne durch einen „Bewegungschor“ aus Statisten gedoubelt, der mit Hilfe von bizarren Kostümen und Requisiten Dramatik erzeugt. Da stören auch Hasen-Kostüme und nackte Männerbeine zu Fräcken nicht weiter.

Hier kann das Staatenhaus, eine weitläufige Messehalle, seine Qualitäten voll entfalten. Das Gürzenich-Orchester ist breit aufgefächert, die Musiker sitzen an Einzelpulten. Man hat allein vier Harfen aufgeboten. Gounods opulente Instrumentierung einschließlich Orgel kommt voll zur Geltung.

Mit Francois Xavier Roth am Pult kann das Gürzenich-Orchester in jeder Beziehung glänzen. Roth ist seit 1. September 2015 Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor der Stadt Köln. Seine Idee war es, die kürzlich erst vom Bärenreiter-Verlag publizierte Urfassung des „Faust“ mit gesprochenen Dialogen und ohne Ballett in Köln zur deutschen Erstaufführung zu bringen.

Johannes Eraths stilistisch brillante Inszenierung von Jules Massenets »Manon« aus der Spielzeit 2017/18 ist in Köln noch in bester Erinnerung. Mit Gounods Faust-Margarethe-Oper setzt er nun – erneut im Verbund mit Bühnen- und Kostümbildner Herbert Murauer und in einem ähnlichen Stil – ein weiteres Standardwerk des französischen Repertoires in Szene.

Oper Köln/FAUST/Samuel Youn/ Foto @ Bernd Uhlig

Im Mittelpunkt der Inszenierung steht der Moment des Sterbens und die bittere Ahnung Fausts, etwas verpasst zu haben.  „Rien“, („Nichts“) zweifelt er an den Erkenntnissen durch Wissenschaft und Theologie.

Die Gretchen-Tragödie, das Melodram der  Liebesgeschichte des alternden Gelehrten Faust mit der naiven jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, Marguerite, die zum tragischen Opfer seiner rauschhaften romantischen Verliebtheit wird, ist seine Imagination der großen Liebe, die er nie erlebt hat.

Die Arie „Salut! demeure chaste et pure“ („Gegrüßet seist Du, bleibe keusch und rein“), deren zweiter in der Uraufführung gestrichener Teil kürzlich auf einem Flohmarkt entdeckt wurde, ist pure romantische Verklärung der jungen Geliebten. Der gestrichene und wieder aufgefundene sehr dramatische Teil stellt schon in der Phase des Werbens um die junge unschuldige Frau Fausts Skrupel dar, die aber durch sein Alter Ego Méphistophèlés zerstreut werden.

Die Urfassung kommt dem Regiekonzept deutlich entgegen, wenn auch die Umsetzung der Massen- und Tanzszenen wie Faustwalzer in der Jahrmarktszene, Soldatenchor und Walpurgisnacht die Sehgewohnheiten irritieren, weil der Chor aus dem Off singt und Walzer bzw. Marsch nur mit Videoskizzen illustriert werden.

Besonders die verstörende Bebilderung von Valentins Tod im Duell mit Faust im Krankensaal eines Lazaretts als Fieberphantasie Fausts nach einem makabren Aufmarsch zeigt im Gegensatz zur patriotischen Musik eine kritische Einstellung zum Krieg.

Oper Köln/FAUST/Samuel Youn, Miljenko Turk, Anne-Catherine Gillet/Foto @ Bernd Uhlig

Star der Produktion ist die Belgierin Anne-Catherine Gillet als Marguerite, die mit einem wunderbar leichten und beweglichen jugendlichen lyrischen Sopran die unschuldige verführte und verliebte Kindsmörderin verkörpert, die aus ihrem naiven Glauben heraus aufgrund ihrer tiefen Reue gerettet wird.

Bassbariton Samuel Youn wurde vor 20 Jahren in der Partie des Méphistophèlés von Dr. Birgit Meyer für das Opernstudio der Kölner Oper entdeckt und kehrt in einer seiner interessantesten Partien zurück. Er ist Spezialist für sinistre Figuren und hat in Bayreuth den „Holländer“ verkörpert. Seine Arie „Le veau d´or“ („Das goldene Kalb“) rockt das Haus.

Alexander Fedin als alter und Young Woo Kim mit exzellentem lyrischem Tenor als junger Faust stehen zeitweise gleichzeitig auf der Bühne und zeigen die Zerrissenheit des romantischen Helden Faust. Fausts ekstatisches Liebesduett mit Marguerite am Ende des dritten Akts ist ein Schwelgen im Rausch der erwachten Liebe und beglückt auf der ganzen Linie.

An Stelle der später komponierten berühmten Arie „Avant de quitter ces lieux“ („Da ich nun verlassen soll“) singt Miljenko Turk als Valentin ein Abschiedsduett mit Marguerite. Sein Schicksal ergreift, zumal Faust den traumatisiert aus dem Krieg zurückgekehrten Bruder eher beiläufig tötet. Die Inszenierung unterläuft die pompöse Fechtmusik.

Regina Richter als Siébel, Lucas Singer als Wagner und Judith Thielsen als Marthe sind aus dem Ensemble exzellent besetzt.

Oper Köln/FAUST/Lucas Singer (hinten links), Miljenko Turk (hinter dem Totenkopf) & Statisten der Oper Köln/Foto @ Bernd Uhlig

Der Pakt des alten Gelehrten Faust mit dem Teufel hat seit Goethes Drama nichts von seiner Faszination verloren. Gounod hat daraus eine große Choroper gemacht, die am 19. März 1859 am Pariser Theatre Lyrique uraufgeführt wurde, allerdings im Stil einer Opéra comique mit gesprochenen Dialogen. Das zeigt, dass die Urfassung der gesprochenen Sprache sehr große Bedeutung beigemessen hat. In Köln wird französisch gesungen und gesprochen, und es gibt deutsche Übertitel.

Das Werk war von Anfang an ein großer Erfolg. Für die Übernahme an der Pariser Opera Nationale 1869  ersetzte Gounod den gesprochenen Text durch Rezitative und komponierte Arien des Siébel, des Valentin, eine Serenade des Mephisto und eine Ballettmusik zur Walpurgisnacht dazu, ganz im Stil der Grand Opéra, die sich weltweit durchgesetzt hat. Die Metropolitan Opera in New York wurde am 22. Oktober 1883 mit „Faust“ eröffnet.

Francois Xavier Roth und Johannes Erath zeigen mit der Kölner Produktion des „Faust“, dass Gounod und seine Librettisten Jules Barbier und Michel Carré Goethes Theaterstück viel näher waren als die mit Pomp, Ballett und Starrummel überfrachtete Grand Opéra, die Gounod später daraus gemacht hat.

Die Oper darf zwar wieder vor Publikum spielen, Zugang bekommen aber nur etwa 200 Gäste mit Maske. Schon am Eingang zum Gelände muss ein negatives Testergebnis oder ein Impfpass vorgelegt werden, die Platzierung wird mit Anmeldebogen erfasst. Die Premiere war im Nu ausverkauft, denn das Publikum dürstet nach Oper Live.

Vermutlich wird der bereits aufgezeichnete Stream demnächst auch gezeigt.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Köln / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Köln/FAUST/Lucas Singer (hinten links), Miljenko Turk (hinter dem Totenkopf) & Statisten der Oper Köln/Foto @ Bernd Uhlig
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