
Christian Thielemann eröffnete vor knapp zwei Jahren mit den ersten drei Beethoven-Sinfonien einen neuen Zyklus mit seiner Staatskapelle Dresden. Die Zusammenarbeit zwischen Orchester und Dirigent gipfelte zu diesem Zeitpunkt in stets neue musikalische Höhepunkte und auch die Übernahme der „Meistersinger von Nürnberg“ von den Salzburger Festspielen an die Semperoper sorgte für weltweites Aufsehen. Die vierte und fünfte Beethoven-Sinfonie bildeten im Januar 2020 das Programm der zweiten Konzertreihe. Zwischen den beiden Lockdowns wurde vor stark reduziertem Publikum zwar die „Pastorale“ und die siebte Sinfonie aufgeführt, trotzdem schien es zuvor unvorstellbar, dass die Konzertreihe mehrmals auf unbestimmte Zeit unterbrochen werden musste. Noch vor Abschluss des Beethoven-Zyklus, zeitgleich mit den zuversichtlichen Lockerungen im Frühjahr, wurde dann auch noch der Weggang von Christian Thielemann als Chefdirigent der Staatskapelle Dresden verkündet – es gab keine Vertragsverlängerung für ihn. (Rezension des Konzertes v. 4.9.21/Semperoper Dresden)
Und so stellt dieser, nun mit der achten und neunten Beethoven-Sinfonie zum Abschluss kommende Zyklus auch eine Zäsur in der Geschichte der Staatskapelle Dresden dar. Der Schlusschor „Ode an die Freude“ erklang wie ein Hoffnungsschimmer auf endlich wieder vollbesetzte Theater- und Opernhäuser und eine in absehbarer Zeit überwundene Pandemie. Mit einem weinenden Auge und beglücktem Ohr blickte man an diesem Abend zurück, denn nicht nur die Pandemie, sondern auch die Tage von Christian Thielemann am Pult der Staatskapelle Dresden scheinen plötzlich fortan gezählt.

Christian Thielemann betont stets, dass man ihn gar nicht als Dirigenten bezeichnet solle, vielmehr sei er doch nur ein Kapellmeister, ein Handwerker, der partnerschaftlich mit seinen Musikerinnen und Musikern, ganz im Dienste des Komponisten, eine Sinfonie erarbeitet. Und doch hörte man sogleich im ersten Thema von Beethovens achter Sinfonie, wie stark dieser Dirigent den Klang und die Phrasierung seiner Staatskapelle prägt. Der sanft artikulierende Streicherapparat und das ausgeprägte Rubato am Schluss der ersten Phrase ließen sofort erkennen, dass der Romantiker unserer Tage, Christian Thielemann, am Pult stand. Sicherlich würde auch nur er eine üppige 16-er Besetzung für dieses ansonsten so schlanke Werk wählen. Und freilich ist Thielemanns Beethoven-Interpretation subjektiv! Bei ihm wurde in der Probe lediglich der große Rahmen, die Architektur der Sinfonie vorbestimmt. All die Verarbeitung der Themen, die Fragen der Artikulation und Phrasierung erschienen bei Thielemann stets aus dem Moment heraus zu geschehen. So erklang selbst eine Wiederholung innerhalb des Satzes stets als eine Art von Variation. Thielemann brach damit die strenge Struktur und Form der Komposition auf und dirigierte das Werk als Caprice, ganz persönlich, aber fortwährend im Geiste Ludwig van Beethovens.
Naturgemäß ist die neunte Sinfonie der Höhepunkt eines jeden Beethoven-Zyklus. Und da diese Sinfonie im Gegensatz zur achten in ihrer Struktur etwas unausgeglichen erscheint, erstaunten die interpretatorischen Freiheiten Thielemanns umso mehr. Seine wandelnden, teilweise stillstehenden und dann plötzlich angetriebenen Tempi im Adagio-Satz, dazu die zarte, freie Artikulation und geschlossene Ausführung im Orchester, wirkten ungewohnt, gleichwohl aufwühlend. Unverzüglich schwang er sich in den Finalsatz, in welchem erst nach einer spannungsgeladenen Generalpause die Melodie von „Freude schöner Götterfunken“ aus den Celli und Kontrabässen zart anstieg. Von diesem Moment an straffte Thielemann sein Tempo, und führte die aufgelockerten ersten drei Sätze, um die Werkestruktur wiederherzustellen, zu ihrem gedrängten Höhepunkt.

Mit seiner natürlichen Bass-Stimme und unaufgeregten Vortragsweise führte Georg Zeppenfeld das Solistenquartett an. Gemeinsam mit Hanna-Elisabeth Müller, Elisabeth Kulman und Piotr Beczała hätte man es kaum opulenter besetzen können. Laut schillernd und sich vollends in die Wogen des Orchesters eingliedernd, erklang auch der Sächsische Staatsopernchor endlich wieder in großer Besetzung.
Zugegeben, in der zehn Jahre alten CD-Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern wirkt Christian Thielemanns Beethoven-Interpretation doch etwas eigenwillig und stellenweise gar irritierend. Blickt man jedoch live auf der Bühne zu diesem Dirigenten und beobachtet ihn bei der Arbeit, sieht die ihn vollends ergebenen Musikerinnen und Musiker – so wirkt seine Interpretation doch schlüssig und authentisch. Die fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Christian Thielemann und der Staatskapelle Dresden wird nach der Spielzeit 2023/24 ihr Ende finden. An diesem Abend bewiesen sie gemeinsam, dass sie sich musikalisch noch nicht ausgesprochen haben, und noch zwei Jahre voller musikalischer Sternstunden zu erwarten sind.
- Rezension von Philipp Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Staatskapelle Dresden
- Titelfoto: Staatskapelle Dresden/C. Thielemann/4.9.21/Foto @ Staatskapelle Dresden