Hochkarätiger Belcanto: „Lucia di Lammermoor“ als Stream aus Bytom

Opera Śląska Bytom/Lucia di Lammermoor/Fotograf: Krzysztof Bieliński

Alle Opernhäuser verlängern die Zwangspause durch Corona, der junge Intendant Łukasz Goik setzt auf technisch perfekte Streams. Die Opera Śląska Bytom (Schlesische Oper Bytom) zeigt seit dem 13. Januar 2021 die von Bogdan Desoń für Corona-Bedingungen eingerichteten Produktion „Lucia di Lammermoor“, die am 26. März 2008 dort Premiere hatte. Man hat das ganze Haus umgebaut: im Parkett sitzt das Orchester, in den Rängen ist der Opernchor der Opera Śląska Bytom aufgestellt. Auf der Bühne agieren in den Chorszenen wenige Statisten.

Mit Gabriela Gołaszewska als Lucia ist die Hauptrolle perfekt besetzt. Sie ist eine exzellente Schauspielerin, die die Titelpartie authentisch verkörpert. Daneben ist sie ein koloraturstarkes Stimmwunder, das mit absoluter Perfektion jede einzelne Verzierung zelebriert. Die musikalische Leitung hat der junge französische Dirigent Franck Chastrusse Colombier, Preisträger des europäischen Dirigentenwettbewerbs.

 

Die Geschichte der „Braut von Lammermoor“ wird hier ganz normal erzählt. Enrico Ashton, ihr Bruder, steckt in finanziellen Schwierigkeiten und möchte seine Schwester Lucia mit Lord Arturo Bucklaw verheiraten. Lucia hat sich aber längst unsterblich in Enricos Feind Egdardo verliebt, den sie immer wieder in Begleitung ihrer Zofe Alisa am Grab ihrer Mutter heimlich getroffen hat. Als Edgardo in diplomatischer Mission nach Frankreich reisen soll und vorher um Lucias Hand anhält bricht der alte Familienkonflikt wieder auf: Edgardos Familie ist durch Enrico um ihr Vermögen gebracht worden. Eine Hochzeit wird von Enrico strikt abgelehnt. Trotzdem hält Lucia an ihrer Liebe zu Enrico fest.

Während Edgardos Abwesenheit fängt Enrico alle Briefe Edgardos an Lucia ab und fälscht einen Brief, der seine Edgardos Untreue beweist. Lucia willigt unter massivem Druck in eine Hochzeit mit Arturo ein. Mitten in den Feierlichkeiten, kurz nachdem Lucia den Ehevertrag mit Arturo unterzeichnet hat, erscheint Edgardo und bezichtigt sie des Verrats.

In der Pause wird allerlei Reklame für weitere Produktionen der Opera Śląska Bytom gemacht, es gibt Interviews mit den Beteiligten, Reklame für weitere Aufführungen des Repertoires zu den Klängen von „La forza del destino“ und Bilder vom Haus. Man sieht die Orchestermusiker wieder hereinkommen, dann folgt der Kulminationspunkt des Dramas.

Während des Vorspiels zum 3. Akt sieht man Lucias Tat: in der Hochzeitsnacht ersticht sie ihren ungeliebten Bräutigam. 

Opera Śląska Bytom/Lucia di Lammermoor/Fotograf: Krzysztof Bieliński

Edgardo stellt Enrico zur Rede, man verabredet ein Duell im Morgengrauen. Während die Hochzeitsgesellschaft ausgelassen feiert, verkündet Raimondo, was Lucia getan hat. Die Gäste sind  schockiert.

Die „Wahnsinnsarie“ wird von Gołaszewa im Dialog mit der Glasharmonika (Christa Schönfeldinger vom Wiener Glasharmonika-Duo) und mit dem Chor virtuos gesungen und gestaltet. Diese Frau darf ihre wahren Gefühle nur in der Maske des Wahnsinns aussprechen. Lupenreine Koloraturen und Verzierungen und ganz große Gefühle! Der Szenenapplaus nach dieser Arie wird besonders schmerzlich vermisst.

Edgardo wartet auf Enrico und beklagt sein Schicksal. Es wird ein Abgesang auf Lucia, auf seine verlorene Liebe. Tenor Łukasz Zaleski ist technisch perfekt und viel besser als die meisten Tenöre, die für diese Partie eingesetzt werden, es fehlt vielleicht noch die stimmliche Opulenz eines Pavarotti oder Beczała. Trotzdem ist sein Auftritt zu Tränen rührend. Sein Selbstmord an der Leiche Lucias geht wirklich an die Nieren.

Diese Oper ist einer der Höhepunkte des Belcanto: „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti, am 26. September 1836 im Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt. Sie gehört zum Kernrepertoire des Opernbetriebs. Immer wieder werden „moderne“ Inszenierungen mit zum Teil abenteuerlichen Verfremdungen in den Feuilletons besprochen, die eigentlich nur deshalb interessant sind, weil entweder ein Superstar (zum Beispiel Diana Damrau in München) die Lucia gesungen hat oder weil der Regieansatz die Handlung in eine Rahmenhandlung oder in eine ganz andere Zeit verlegt. Hier spielt die Handlung in Kostümen, die vage an die Renaissance erinnern in einem abstrakten Bühnenbild aus groben Brettern. Nichts lenkt vom Kammerspiel um Lucia, Edgardo und Enrico ab.

Opera Śląska Bytom/Lucia di Lammermoor/Fotograf: Krzysztof Bieliński

Die Titelpartie ist eine Herausforderung für jede Primadonna – unvergessen sind Maria Callas, Joan Sutherland und Edita Gruberova. Im Gegensatz zu vielen anderen, die in erster Linie auf Ausdruck setzen und Koloraturen weglassen ist Gabriela Gołaszewska stimmlich perfekt. Die Tenorpartie des Edgardo ist gespickt mit Herausforderungen, die Łukasz Zaleski souverän bewältigt, und die Partie des Enrico, der seine Schwester verkuppelt, ist für jeden guten Bariton eine Steilvorlage, so auch für Stanislav Kufłyck, der in seiner Maske an Mephisto erinnert. Vom Typ her ist es schon klar, dass der softe Edgardo sich gegen den dominanten Enrico nicht durchsetzen kann. Und Lucia zerbricht an den Forderungen ihres Bruders.

Die Geschichte nach dem Schauerroman „The Bride of Lammermoor“ von Walter Scott ist haarsträubend. Dass sie eigentlich im 16. Jahrhundert  in Schottland spielt ist völlig unerheblich. Es geht allein um die Dreiecksbeziehung zwischen Lucia, ihrem Bruder Enrico und ihrem Geliebten Edgardo. Als Ergänzung treten auf Raimondo (Zbigniew Wunsch, Bass), Lucias Priester und Vertrauter, der aber mit Enrico unter einer Decke steckt, Alisa (Anna Borucka, Mezzosopran) , ihre Kammerzofe und Vertraute, die wenig ausrichten kann, Normanno (Grzegorz Biernacki, Tenor), Kommandant von Enricos Truppen als Stichwortgeber und Arturo (Adam Sobieraski, Tenor), das Mordopfer, alle auf solidem Stadttheater-Niveau aus dem Ensemble besetzt. Der junge französische Dirigent Franck Chastrusse Colombier musiziert stilsicher und transparent, es gelingen ihm fulminante Steigerungen. Er erklärt in der Pause, dass „Lucia die Lammermoor“ das Spitzenwerk des Belcanto und Vorläufer der Werke Giuseppe Verdis ist.

Der Chor agiert vorzüglich aus dem Off, das Orchester spielt stilsicher, wenn auch die Intonation der Hörner mitunter wackelt. Besonders erwähnt werden muss Christa Schönfeldinger aus Wien, die zu Lucias „Wahnsinnsarie“, zu Recht einer der berühmtesten Arien der Opernliteratur, die Glasharmonika spielt. Während früher die Begleitung durch eine Flöte gängig war hat sich die Glasharmonika oder auch die Glasharfe, die wegen der besonderen Spieltechnik besonders obertonreich sind, in der Aufführungspraxis durchgesetzt.

Opera Śląska Bytom/Lucia di Lammermoor/Fotograf: Krzysztof Bieliński

Die sieben durchkomponierten Bilder gipfeln alle in fulminanten Finali, bei denen der Szenenapplaus beim Streamen schmerzlich vermisst wird. Die Auslagerung des Chors in die Ränge fokussiert die Handlung auf die drei Protagonisten. Es ist ein typisches Belcanto-Werk, denn bei allem Hass und Streit singen die Protagonisten immer schön und mit zahlreichen Verzierungen. Arien und Duette sind nach dem Schema Rezitativ – Cabaletta – Arie, zum Teil mit Choreinwürfen, aufgebaut und ermöglichen den Solisten in der Wiederholung beliebig kunstfertige Steigerungen.

Der technisch perfekte Stream ersetzt zwar nicht das Live-Erlebnis, kann aber ein guter Ansatz sein, ein Werk des Kernrepertoires in einer guten Besetzung und einer klassischen Inszenierung zu sehen. Für den Live-Stream der Premiere am 5. Dezember 2020 konnten 5.500 Karten verkauft werden!

Streamingtickets können bis zum 3. April 2021 zum Preis von 20 Zloty (=4,40 €) erworben werden.

Hier der Link zum Trailer: G. Donizetti ŁUCJA Z LAMMERMOOR | Zwiastun transmisji na żywo – YouTube

Der Link zum „Making of“: G. Donizetti ŁUCJA Z LAMMERMOOR | making of – YouTube

Hier der Link zum Stream: https://vod.opera-slaska.pl/

Mehr über Opera Śląska Bytom (Schlesische Oper Bytom): https://opera-slaska.pl/historia

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Titelfoto: Opera Śląska Bytom/Lucia di Lammermoor/Fotograf: Krzysztof Bieliński
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