Hänsel und Gretel im Eisschrank – tolle Ensembleleistung im Theater Hagen

Theater Hagen/HÄNSEL UND GRETEL/ Foto @ Volker Beushausen

Die Hauptperson, die die Geschichte von Hänsel und Gretel träumt, singt nicht und kommt in der Partitur überhaupt nicht vor. Es ist Wilhelmine Ueter, ein etwa 10-jähriges blondes Mädchen, das die Geschichte von Hänsel und Gretel in der schwarz-weißen Videoinstallation im Stil eines Hitchcock-Films mit Bildern von Salvador Dalí träumt. Sie stellt sich vor, dass ihre Idole Hänsel und Gretel sich im leeren Kühlschrank aufhalten, in dem die eigentliche Geschichte nach der Ouvertüre beginnt. Die Tür des Kühlschranks ist auch der Eingang zum Hexenhaus. Die Hexe hat wirklich Zauberkräfte und ist ein Tenor. Zum Glück kennen alle die Geschichte, so dass der Gag mit dem Eisschrank nicht weiter stört. Humperdincks wundervolle Musik hält auch das aus und animiert alle zu tollen Gesangsleistungen. Es ist eine beeindruckende Ensembleleistung. (Besuchte Vorstellung am 14.1.2022)

 

An einer Video-Projektion kommt heute keine „Hänsel-und-Gretel“-Produktion mehr vorbei. So wird schon die Ouvertüre von Hans-Joachim Köster bebildert mit der Rahmenhandlung von dem Mädchen, das von der Mutter in der Küche mit dem Kuchen im Backofen allein gelassen wird. Sie überhört die Zeitschaltuhr, weil sie mit dem Handy spielt. Als die Mutter heimkommt ist der Kuchen verbrannt: Riesenstress und dicke Luft. Der Vater kommt heim und flüchtet sich in den Alkohol aus einem Flachmann – erst recht keine Lösung! Der Flachmann landet im gähnend leeren Kühlschrank. Das angedeutete Sozialdrama der überforderten Eltern, die vom Kind zu viel erwarten und selbst als Eltern versagen, ist aufgerissen.

Theater Hagen/HÄNSEL UND GRETEL/ Foto @ Volker Beushausen

Das Mädchen verarbeitet seine Enttäuschung in einem Traum: Hänsel und Gretel im Kühlschrank. Regisseur Holger Potocki gelingt damit das Kunststück, die märchenhaften Sequenzen als Traum plausibel zu machen, der dadurch, dass das Mädchen im Traum von Hänsel und Gretel vorkommt, noch mit der Handlung verschränkt wird. Alle reinen Orchesterphasen sind mit Videobildern bebildert, die hervorragend mit der recht flott gespielten Musik synchronisiert sind.

Lena Brexendorf, zuständig für Bühne und Kostüme, hat anscheinend eine Vorliebe schrille Perücken (Gretel knallrot) und für Karomuster: Hänsel in Gelb, Gretel in Rot, der Vater in Olivgrün und die Mutter / Hexe in Beige. Gewöhnungsbedürftige Traumbilder ergeben sich schon dadurch, dass Hänsel und Gretel und ihre Eltern im bühnengroßen Kühlschrank scheinbar auf Miniaturformat geschrumpft sind, so dass eine einsame Lauchzwiebel als düsengetriebener Hexenbesen benutzt werden kann.

Der Wald ist mit hängenden Tüchern stark stilisiert, das Hexenhaus ist der Kühlschrank der Marke HEXXX, aber diesmal gefüllt, und die Hexe trägt die gleiche Perücke und das gleiche Kostüm wie die Mutter – auf diesen Tabubruch muss man erst mal kommen!

Hier wird durch die Rahmenhandlung die Geschichte am Anfang zwar unnötig gedoppelt, und man ist verwirrt, wer denn nun wer ist. Die projizierten Augen, die Schlüssel, die das Herz aufschließen à la Dalì sind bestenfalls Dekoration, denn die Musik sagt schon alles. Am Schluss löst sich die Rahmenhandlung auf: der verkohlte Kuchen ist die Hexe aus dem Traum, und alle lachen und haben sich wieder lieb.

Theater Hagen/HÄNSEL UND GRETEL/ Foto @ Volker Beushausen

Musikalisch bleibt das Philharmonische Orchester Hagen unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel nichts schuldig, vor allem die orchestralen Phasen glänzen. Als Begleitung des Gesangs ist das große Orchester – das Glockenspiel muss in der Seitenloge Platz nehmen – allerdings zu laut. Die hervorragenden Sänger*innen müssen sich mitunter sehr anstrengen, um in dem recht kleinen Theater das Orchester zu übertönen.

Einspringerin Charlotte Quadt aus Bonn als burschikoser Hänsel fügt sich souverän in die Inszenierung ein als hätte sie immer schon mitgewirkt, und Penny Sofroniadou als Gretel ist mit anrührenden lyrischen Momenten („Wo bin ich, ist es ein Traum?“) einfach nur entzückend. Den Abendsegen und die Kinderlieder singen die beiden liedhaft schlicht, in der Auseinandersetzung mit der Hexe entfachen sie große darstellerische und gesangliche Qualitäten.

Theater Hagen/HÄNSEL UND GRETEL/ Foto @ Volker Beushausen

Tenor Anton Kuzenok als Hexe, zunächst zur Unkenntlichkeit verkleidet, dann aber mit Glitzertop, glänzender Kappe und kariertem Hosenrock eine phantastische Gestalt, vollführt auf einer überdimensionierten Lauchzwiebel als Hexenbesen einen veritablen Ritt durch die Luft und entwickelt mit Mut zur Hässlichkeit – auch stimmlich – großes dämonisches Talent. Das hohe C am Ende des Hexenritts im dritten Akt lässt er sich als Spitzenton eines Tenors allerdings nicht nehmen!

Mutter Gertrud (Angela Davies) glaubt man die überforderte Mutter, die an ihrem trunksüchtigen Mann und ihrer desolaten Lage („müde bin ich … müde zum Sterben“) verzweifelt.

Vater Peter (Insu Hwang) und Sandmännchen / Taumännchen (Anna Lucia Struck) sind aus dem Ensemble solide besetzt. Anna Lucia Strucks hoher Sopran hebt sich schön von Penny Sofroniadous lyrischem Sopran ab. Der Vater erzeugt mit der Arie „Eine Hex´ steinalt …“ schon die richtige Spannung.

Der Kinderchor des Theaters Hagen, verstärkt durch den Damenchor, spielt die armen von der Hexe zu Eiswürfeln verhexten Kinder, die von Hänsel und Gretel befreit werden, sehr homogen und klangschön.

Intendant Francis Hüsers hat mit dieser Oper ein Stück für die ganze Familie auf den Spielplan gesetzt. Das trotz Pandemie recht zahlreiche Hagener Publikum applaudierte jedenfalls begeistert, und auch mir hat es Freude gemacht, meine Hagener Stars Anton Kuzenok und Penny Sofroniadou und Charlotte Quadt aus Bonn in Paraderollen zu erleben.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Theater Hagen / Stückeseite
  • Titelfoto: Theater Hagen/HÄNSEL UND GRETEL/ Foto @ Volker Beushausen

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