
Traditionell eröffnet das Teatro alla Scala am 7. Dezember, dem Gedenktag des Heiligen Ambrosius von Mailand, mit einer großen Galavorstellung seine neue Spielzeit. In diesem Jahr wird Riccardo Chailly als Direttore Musicale Verdis Oper „Macbeth“ mit Anna Netrebko in der Hauptrolle zum Besten geben. Die neue Konzertsaison der Filarmonica della Scala, dem aus Mitglieder*innen des Orchestra del Teatro alla Scala gebildetem Klangkörper, wird jedoch schon wenige Tage zuvor eröffnet. Der ursprünglich hierfür vorgesehene finnische Dirigent Esa-Pekka Salonen zeigte sich jedoch unpässlich und musste sein Dirigat kurzfristig zurückziehen. Als „Einspringer“, wobei dieser Begriff sicherlich ein Understatement ist, konnte niemand geringeres als Christian Thielemann gewonnen werden. Er gilt als einer der bedeutendsten Dirigenten unserer Tage für das „deutsche Fach“ von Strauss, Brahms und Wagner. (Konzert v. .27.11.2021)
Bislang hat Christian Thielemann der Sächsischen Staatskapelle Dresden als ihr Chefdirigent „Treu‘ bis in den Tod“ geschworen. Er gastierte kaum bei einem anderen Sinfonieorchester — lediglich mit den Berliner und Wiener Philharmonikern pflegt er ein musikalisches Verhältnis. Dass er ausgerechnet jetzt, nach knapp dreißig Jahren, kurzfristig an die Mailänder Scala zurückkehrt, ist schon ein Statement. Denn in dieser Woche wurde seine musikalische Heimat, die Semperoper Dresden und mit ihr die Staatskapelle, in einen neuen Lockdown geschickt. Christian Thielemann scheint sich in Dresden nicht mehr so geschätzt wie früher zu fühlen und streckt eben seine Fühler aus: Andere Städte haben eben auch schöne Opernhäuser! In diesem Frühjahr wurde sein Vertrag als dortiger Chefdirigent, unbeachtet seiner herausragenden musikalischen Leistungen, nämlich nicht verlängert.

Kaum eine andere Sängerin hat in den letzten Jahren derart eng mit Christian Thielemann zusammengearbeitet wie die finnische Sopranistin Camilla Nylund, sie war „seine“ Kaiserin an der Wiener Staatsoper. Unter Thielemanns musikalischer Leitung verkörperte sie auch die Partie der Eva an der Semperoper Dresden oder Elsa bei den Bayreuther Festspielen. Mit Richard Strauss Vier Lieder, op. 27 in der Orchesterfassung eröffnete Nylund das Konzertprogramm des Abends. Die Sopranistin bestach durch ihren unaffektierten, überaus natürlichen Gesangsvortrag, mit welchen sie jedem Lied eine persönliche Note einhauchte. Am Pult trug Thielemann seine Sopranistin auf Händen, die Filarmonica della Scala zurückgenommen gedämpft, gleichwohl klangfarbenreich, formte er die Worte in ihrem Mund und vereinigte so Text mit der Musik.
Die Vier Lieder, op. 27 sind nicht mit Strauss „Vier letzten Liedern“ zu verwechseln, wobei in Nylunds Interpretation des „Ruhe, meine Seele“ durchaus eine gewisse Analogie zu hören war. Bei Nylunds Worten „Wie die Brandung, wenn sie schwillt!“ ließ Thielmann die Filarmonica für einen Moment aufschäumen. Er antizipierte so seine stürmische Interpretation des unverzüglich folgenden symphonischen Hauptteils des Konzertprogramms, der Sinfonie Nr. 4 in e-Moll von Johannes Brahms. Als eines der beliebtesten Orchesterwerke des Komponisten steht sie im Kontrast zur eigentlich von Esa-Pekka Salonen in diesem Konzert geplanten 6. Sinfonie in A-Dur Anton Bruckners, von Komponisten selbst als seine „keckste“ bezeichnet, die sich nie so richtig im Kanon der Konzertprogramme hat durchsetzen können.

Im ersten Satz, dem Allegro non troppo, wurde deutlich, dass Thielemann seine bekannten musikalischen Stilmittel, von ausgedehnten Fermaten und überschwänglichen Generalpausen, mit diesem italienischen Orchester nicht auskostete. Stattdessen lotete er gekonnt sämtliche Klangfarben der Partitur aus, womit er umso stärkere Effekte erzielte. Auch in Italien ist zwischen den Sätzen kein Applaus gewünscht, so ging nach diesem Satz lediglich ein andächtiges Raunen durch das Auditorium. Im dritten Satz, dem Allegro giocoso – Poco meno presto, geschah schließlich das Unerwartete: Aufs äußerste verdichtet, im straffen Tempo, agierte die Filarmonica della Scala auf jeden noch so kleinen Fingerzeig des Dirigenten, ganz so, als wären sie seit jeher füreinander bestimmt gewesen — keine Spur von drei Jahrzehnten der Trennung.
„Vincerò! Ich werde siegen!“ — um es mit den Worten aus Puccinis „Turandot“ zu sagen — schien das Motto des Konzerts gewesen zu sein. Und wie sie gesiegt haben: Die Mailänder Scala, Christian Thielemann und insbesondere die Filarmonica della Scala! Das ihrem Kapellmeister hingebungsvoll applaudierende Orchester ließ spüren, dass diese Brahms-Sinfonie nur der fruchtbare Auftakt, ein „Anacrusi“, einer anhaltenden Kollaboration von Christian Thielemann an der Mailänder Scala gewesen sein wird. Dieses denkwürdiges Konzert dauerte nur knapp eine Stunde und stellte dabei schon jetzt die eigentliche Saisoneröffnung am 7. Dezember, die Inaugurazione des Teatro alla Scala, weit in ihren Schatten.
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Mailänder Scala
- Titelfoto: Mailänder Scala/ Foto @ Josef Fromholzer-DAS OPERNMAGAZIN