Die Neuinszenierung der einaktigen Oper „Elektra“ bildet den Schwerpunkt der diesjährigen Osterfestspiele Baden-Baden. Es ist weniger das Regiekonzept als vielmehr die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko, welche die Vorstellung zum Ereignis haben werden lassen. (Rezension der Vorstellung vom 26. März 2024)
Regieduo mit einfältiger Deutungsverweigerung
Mit Philipp M. Krenn und Philipp Stölzl traten gleich zwei Regisseure mit vermeintlich gut intendiertem, doppelt kreativem Tatendrang an, um dem mörderischem Musikdrama Elektra eine neue Deutungsebene abzugewinnen. Ihr Konzept: In einem gräulichen, klaustrophobisch-engen, mit sich stetig in Bewegung befindlichen Stufen ausgestattetem Bühnenkasten spielt sich das Familiendrama ab. Etwa 4/5 der Bühne des großen Festspielhauses verbleiben dabei ungenutzt mit schwarzen Tüchern verhüllt. Die Figuren sind allesamt dunkel-schwarz gekleidet und dadurch kaum zu unterscheiden. Sie bewegen sich im engen Rahmen der eher statischen Szenerie der Stufen auf und ab. Die Regisseure projizieren während der 100-minütigen Aufführung das gesamte (!) Libretto der Elektra-Dichtung konsequent auf Böden, Decken und Stufen des Bühnenkastens. Die Wirkung dieses zunächst noch als gewagten Einfalls anmutenden Effekts verpufft schon während der eröffnenden Mägde-Szene. Die grafisch ermüdende Qualität dieser Libretto-Videoprojektion weckt Assoziationen an dilettantische Gehversuche einer frühen PowerPoint-Version mit einfliegendem WordArt oder eines Windows-2000-Bildschirmschoners.
Der Genialität des Librettos Hugo von Hofmannsthals ist sich der geneigte Strauss-Liebhaber durchaus bewusst. Einen interpretatorischer Mehrwert, die sowieso oberhalb der Bühne eingeblendeten Obertitel auf dem Bühnenbild zu verdoppeln, hat dieses Regieduo nicht ergründet. Sie ermöglichen eine Redundanz und vermeiden dabei den Blick in die Tiefe. Dabei war es doch gerade die berühmte Forderung Hofmannsthals, die Tiefe an der Oberfläche zu verstecken! Orests Auftritt als Kriegsversehrter des Ersten Weltkriegs wirkte als einziger, bemühter Deutungsansatz dabei so verloren wie unnötig. Bedauerlicherweise kam im großen Auditorium des Festspielhauses hinter dem effekthascherischem Video-Geflimmer die durchaus respektable, tiefenpsychologische Personenregie der Frauencharaktere durch Stölzl und Krenn lediglich unzureichend zur Geltung.
Was im Voraus als signifikanteste Elektra-Neuinszenierung seit jener im Sommer 2013 Maßstäbe-setzenden Interpretation von Patrice Chéreau aus Aix-en-Provence antizipiert wurde, blieb im Ergebnis eine halbszenisch anmutende, unausgegorene Enttäuschung. Da hätte eine konzertante Aufführung, bei der das Publikum den Dirigenten Kirill Petrenko beim Musizieren beobachten kann, weitaus mehr Spannung ermöglicht. Diese erwiesen sich ja als eigentlicher Grund, die Festspiele zu besuchen.
Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker in ungeahnter Strauss-Perfektion
Obwohl kein anderes Werk des Opernrepertoires ein derart umfangreiches Orchester wie Richard Strauss‘ Elektra fordert, ist dieses fest auf den Spielplänen der Opernhäuser verankert. Gerade aufgrund seiner Popularität kann man naiv hinterfragen, welchen Unterschied die Berliner Philharmoniker in der musikalischen Darbietung überhaupt noch bewirken können. Als das markerschütternde Agamemnon-Motiv der ersten Takte augenblicklich einschlug und das Publikum gebannt in den Sitz drückte, war jeder Zweifel sofort verflogen. Erstaunen, über den einzigartigen Klang und die Akkuratesse der Berliner Philharmoniker, welche ein krachendes Fortissimo nie geahnt homogen und durchhörbar erklingen lassen können. Kirill Petrenko überzeugte mit einer bis ins letzte Detail ausgeschliffenen und gefeilschten Interpretation, die nichts dem Zufall überließ und in welcher jede kleinste solistische Phrase in stundenlangen Proben ausgearbeitet worden ist. Das Ergebnis könnte man direkt als Referenzaufnahme auf CD einspielen. In gewohnt rapiden Tempi und unter Hochspannung peitschte Petrenko durch die Partitur, als stünde Orest selbst mit dem Beil hinter dem Dirigenten. Die Berliner Philharmoniker bebten feurig in den scharfkantigen Dissonanzen, welche das Solistenensemble zu Höchstleistungen antrieb. Das Gesamterlebnis blieb ein orchestrale Perfektion, wie sie einzig die Osterfestspiele Baden-Baden bieten können!
Stimmgewaltiges Damentrio dreier Strauss-Legenden: Stemme, Van den Heever und Schuster
In der Titelpartie der Elektra brillierte Nina Stemme als nach wie vor unangefochtene hochdramatischste Sopranistin der Gegenwart. Ihre versierte Gesangstechnik nach skandinavischer Tradition einer Astrid Varnay oder Birgit Nilsson ist derzeit unerreicht. Bei ihr wirkte diese mörderische Rolle wie eine Selbstverständlichkeit, so bewies sie sich mit ihrer unaufgeregten, hochkonzentriert-intensiven Art erneut als Idealverkörperung der Elektra, an welcher sich alle kommenden Generationen von Strauss-Sopranistinnen messen zu lassen haben.
Elza van den Heever bildete als Elektras hingebungsvolle Schwester Chrysothemis mit klangfarbenreicher, warm-glühender und mit lyrischen Zwischentönen versehenden Sopranstimme einen eindrucksvoll rührenden Kontrast.
In der hysterischen Partie der Mutter Klytämnestra glänzte Michaela Schuster — es ist schließlich eine ihrer Paraderollen — in ihrer unnachahmlichen, zunehmend exzentrischeren Art. Sie ließ ihre Mezzo-Stimme gekonnt ins Deklamatorische schweifen, um ihrem angsterfülltem Hass Nachdruck zu verleihen. Prägnant auf den Punkt überzeichnet, gestaltete Wolfgang Ablinger-Sperrhacke mit charakterstarker Tenorstimme einen bizarr-exaltieren Aegisth in Perfektion. Johan Reuter demonstrierte als Orest mit tragender, klangschöner Bariton seine Phrasierungskunst.
Petrenko oder Thielemann? Richard Strauss Overkill für das internationale Festspielpublikum
Bedauerlicherweise klafften in dieser zweiten Aufführung insbesondere auf den Rängen des Festspielhauses große Lücken leerer Sitzplätze im Publikum. Während die im vergangenen Jahr aufgeführte Frau ohne Schatten noch weitestgehend ausverkauft werden konnte, scheint Elektra diesmal weitaus weniger Anklang gefunden zu haben, der einzigartigen Starbesetzung zum Trotz. Womöglich bleibt eine österliche Übersättigung des stets begeistertem, von nah und fern in die beschauliche Musikmetropole angereistem Festspielpublikums, mit den Musikdramen Richard Strauss festzustellen. Auch die zeitgleich in den Osterferien stattfindenden und ähnlich elaboriert gecasteten Richard-Strauss-Festtage an der Semperoper Dresden — mit einem nicht minder aufregenden Christian Thielemann am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden — stellen das internationale Festspielpublikum sowie den geneigten Strauss-Liebhaber vor die Qual der Wahl. Und manch einer fremdelt gar noch über 100 Jahre nach der Uraufführung der Elektra mit den schrillen und markerschütternden Klängen dieses Neutöners namens Strauss und wünscht sich lieber einen Verdi oder Mozart.
Im Frühjahr 2025 werden die Berliner Philharmoniker schließlich das letzte Mal in Baden-Baden mit einer Opernproduktion gastieren. Mit Giacomo Puccinis Madame Butterfly wird das Orchester dann auch wieder eine andere Zielgruppe im Publikum ansprechen: Kongenial besetzt mit Eleonora Buratto und Jonathan Tetelman in den Hauptrollen — und erneut unter der musikalischen Leitung von Kirill Petrenko — wird ihnen mit großer italienischer Oper ein ausverkauftes Festspielhaus gewiss sein. Nach ihrem Abschied aus Baden-Baden kehrt das Orchester im Jahr 2026 zu seiner ursprünglichen Wirkungsstätte für die Osterfestspiele nach Salzburg zurück.
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Festspielhaus Baden-Baden / Stückeseite
- Titelfoto: Osterfestspiele Baden-Baden 2024/ELEKTRA/N. Stemme, M. Schuster, E. v.d. Heever/ Foto: Monika Rittershaus