Todesschreie nach der Mutter – „Tristan“ an der Berliner Staatsoper in seiner ersten Wiederaufnahme

Staatsoper Berlin/TRISTAN UND ISOLDE/ Andreas Schager (Tristan), Anja Kampe (Isolde)/Credits: Monika Rittershaus

Tristan und Isolde im Weltall, in Nebelwaden oder im Treppenlabyrinth: In der Rezeptionsgeschichte wurde die Liebesgeschichte der psychologischsten Oper Richard Wagners unzählige Male auf ihre innere Handlung reduziert, abstrahiert und schließlich symbolistisch auf der Bühne dargestellt. Dmitri Tcherniakovs Deutung sorgte zu ihrer Premiere im Herbst 2017 für Unverständnis beim Publikum. Seine Ästhetik und Personenführung ist nicht abstrahiert angedeutet, sondern ganz konkret und realistisch in der Gegenwart mit determiniert handelnden Personen angesiedelt. ( Vorstellung vom 20. Juni 2019, Phillip Richter

 

Der erste Akt spielt auf König Markes Jacht, in deren luxuriös ausgestattetem Unterdeck sich die dekadente Gesellschaft rund um Tristan und König Marke muntere Geschichten erzählen. Tristan erlebt hierbei immer wieder Rückblenden und erinnert sich an eine vergangene, eine alte Zeit. Noch ist nicht erkennbar, um welche Personen seine Gedanken kreisen, Isolde scheint es jedoch nicht zu sein. Im weiteren Verlauf der Inszenierung zieht es Marke und seine Begleiter als begeisterte Jäger in den Wald. Die Jagt wird hier nur als ein dekadentes Vergnügen oder Zeitvertreib darstellt, der handelnden Personen geht es nicht um den Broterwerb, sondern nur um eine oberflächliche Unterhaltung. Schiff und Wald, beides in Wagners Partitur, finden sich in abgewandelter Bedeutung somit in der Inszenierung der Berliner Staatsoper.

Staatsoper Berlin/TRISTAN UND ISOLDE/ Ensemble/Credits: Monika Rittershaus

In Tcherniakovs Welt des Tristans entsteht keinerlei Liebe, die Protagonisten singen leidenschaftlich miteinander, aber dennoch immer aneinander vorbei. Im Liebesduett manipuliert Tristan sein Gegenüber und legt mit ausschweifenden Gesten die Worte in den Mund von Isolde. Die Hingabe der Protagonisten ist erkennbar– aber nicht an wen diese eigentlich gerichtet ist. Erst im dritten Akt löst der Regisseur die Liebesverhältnisse auf. Verwundet sieht sich Tristan in seine Kindheit zurückversetzt, das Bühnenbild und die Kostüme erinnern an eine Arbeiterfamilie der 1960er Jahre, die Dekadenz der ersten Akte ist verflogen. Es deutet sich eine extreme Form des Ödipuskomplexes an, Tristan projiziert im Fieberwahn gar keine Sinnlichkeit zu seiner Isolde, denn diese diente ihm nur als Projektion für seine eigene Mutter. Konsequenterweise kann ein Liebestod gar nicht stattfinden. Tristan scheint nur eingeschlafen, nachdem er Isolde zu einer Nebenfigur degradiert hat.

Dmitri Tcherniakovs Inszenierung ist nie eindeutig nachvollziehbar und wirkt dadurch spannend und mühsam gleichermaßen. Seine Ästhetik ist praktisch, er verzichtet auf jede Spiritualität und wird zur keiner Sekunde trivial oder provokant. Er erzählt eine stringente Geschichte, aber doch ist diese im Kontext der Handlung Richard Wagners nicht schlüssig. Ohne Hintergrundliteratur, dem Besuch der Einführung, einem Zweitbesuch der Vorstellung oder einem umfangreichen Studium des Programmhefts wird sich diese Produktion dem Zuschauer womöglich gar nicht erschließen.

Daniel Barenboim leitete ein spannungsvolles und aufgeladenes Dirigat, meist in langsamen Tempi trieb er seine Sänger durch plötzliche Laustärkewechsel voran. Wo Barenboim zuletzt in den Meistersingern seine Solisten noch auf Händen trug, lud er nun die Gefühlsschwankungen der Tristan-Partitur erbarmungslos auf seine Solisten aus. Die Staatskapelle Berlin folgte ihrem GMD unermüdlich, die Sänger motivierte dies zu neuen Höchstleistungen.

Staatsoper Berlin/TRISTAN UND ISOLDE/ Andreas Schager (Tristan), Anja Kampe (Isolde)/Credits: Monika Rittershaus

Alle fünf Hauptrollen verfügten über große Stimmen, die dem imposanten Dirigat entgegentragen und im Kamp gegen das Orchester siegten. Allen voran Andreas Schager, er gilt als gefragtester Heldentenor der Gegenwart. Während das Publikum bei manch anderem Tristan mitfiebert, ob er den Fieberwahn überhaupt irgendwie durchsteht, strotzte Schagers Stimme nur vor Kraft und Ausdauer, so dass er nach dem „Oh diese Sonne“ mühelos noch die Schmiedelieder und ein „Winterstürme“ zum Besten geben könnte. Seine deutliche Aussprache, die mühelosen Höhen und die klare Stimme machen ihn zu einem Phänomen.

Und dennoch blieb seine Interpretation des Tristans eindimensional und wenig differenziert. Ungeachtet seines Todeskampfes riss Andreas Schager beide Hände in die Höhe und sang mit schwellender Brust und mit einem Lächeln im Gesicht stets in Richtung des Publikums. Als „Bühnentier“ beeindruckte Schager und zog die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich. Eine Phrase aufzubauen, eine Textgestaltung oder eine individuelle Klangfärbung der Vokale, all dies war ihm nicht vergönnt, stattdessen setzte er die Töne behutsam einzeln an und zog jede längere Note ins Fortissimo. Die Aneinanderreihung unzähliger kraftvoller Töne ergibt jedoch noch lange keine tiefergehende Charakterstudie eines Tristans.

Staatsoper Berlin/TRISTAN UND ISOLDE/ Boaz Daniel (Kurwenal)/ Credits: Monika Rittershaus

Anja Kampe steigerte sich seit der Premiere in ihrer Rollendarstellung der Isolde. Ihre kraftvolle Stimme verfügte über leicht geschärfte Zwischentöne, mit denen sie gerade den zerrissenen Charakter der Isolde zu einer Idealdarstellung verkörperte. Die Ironie und Dramatik verstand sie gekonnt darzustellen, so dass die Stimme in den höheren Lagen gelegentlich kontrolliert ausbrach. Ihr gegenüber stand Violeta Urmana. Sie wusste als ehemals langjährige Isolde, und nun als Brangäne, genau was im Kopf ihrer Gefährtin vorgehen mag und bot gerade deshalb einen spannungsvollen Kontrast mit starker Stimme. In ihrer Darstellung blieb sie streng und selbstbewusst. Rene Pape gab einen voluminösen und kraftvollen König Marke – seine 20 Minuten Monolog waren an Intensität nicht zu übertreffen. Boaz Daniel sang einen klangschönen wie ausdrucksstarken Kurwenal, lediglich die Textgestaltung – Kurwenals Sarkasmus im ersten Akt – hätte ausgeprägter sein können.

Diesen Opernabend an der Staatsoper in herausragender Besetzung werden die Zuschauer so schnell nicht mehr vergessen. Tcherniakov zwingt den Betrachter über das Bühnengeschehen hinaus sich weiter mit dem Tristan-Mythos und seinem Regiekonzept zu beschäftigen. Statt eines seichten Opernabends lädt seine Regie zur Diskussion ein und erfüllt damit die Ansprüche an ein zeitgemäßes Musiktheater und an das Aufrechterhalten des Gesamtkunstwerks Richard Wagners.

 

  • Rezension von Philipp Richter / RED. DAS OPERNMAGAZIN
  • Staatsoper Unter den Linden / Stückeseite
  • Titelfoto: Staatsoper Berlin/TRISTAN UND ISOLDE/ Andreas Schager (Tristan), Anja Kampe (Isolde)/Credits: Monika Rittershaus
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Ein Gedanke zu „Todesschreie nach der Mutter – „Tristan“ an der Berliner Staatsoper in seiner ersten Wiederaufnahme

  1. Ich frage mich ob der Rezensent überhaupt die Auffühung gesehen oder in einer anderen war. Das war eine Tristanaufführung auf Weltklassenievau. Insbesondere Anja Kampe und Andreas Schagerl haben die Titelpartien sowohl sängerisch als auch im Ausdruck/Emotion so interpretiert wie es besser wohl nicht geht. Getragen wurden sie von einem hervorragenden Orchester, dass wunderbar unter dem Dirigat von Daniel Barenboim aufgespielt hat. Das war eine der besten Tristan Aufführungen die ich je gesehen und gehört habe. Und lieber Herr Philip Richter, wenn man jemanden einen Tristan abnehmen kann, dann Andreas Schagerl an diesem Abend.

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