
Mit seiner Oper „Salome“ nach dem Theaterstück von Oscar Wilde etablierte sich der 37-jährige Richard Strauss 1905 als führender Opernkomponist seiner Zeit. Basierend auf einem biblischen Stoff schildert „Salome“ die Obsession einer verwöhnten Prinzessin, die ihre Attraktivität als junge Frau einsetzt, um das zu bekommen, was sie nicht haben kann – den Kopf des Jochanaan, des Propheten, der ihre Mutter Herodias als Ehebrecherin und Nymphomanin schmäht und als einziger Mann ihren jugendlichen Reizen widersteht. GMD Patrick Hahn erzeugt mit dem Sinfonieorchester Wuppertal und einem hochkarätigen Ensemble einen enormen Spannungsbogen, der erst mit dem Ausruf des Herodes: „Man töte dieses Weib“ endet. Man erlebt die Geschichte von zwei starken Frauen: Salome und Herodias, denen der charismatische Prophet Jochanaan zum Opfer fällt. (Rezension der Vorstellung v. 7. Februar 2025)
Mit „Wie schön ist die Prinzessin Salome heut Nacht“ des jungen Hauptmanns Narraboth beginnt das Verhängnis in Echtzeit: „Schreckliches kann geschehen“, so ein junger Page der Herodias. Die biblische Vorlage spielt in einer Zeit des Umbruchs und des Werteverfalls während der römischen Besatzung Judäas zur Lebenszeit Christi, das Sujet ist zeitlos und wurde vor allem von Künstlerinnen und Künstlern des Symbolismus mit Metaphern wie dem silbernen Mond und viel Blut aufgegriffen. Das zu Grunde liegende Theaterstück von Oscar Wilde hat Richard Strauss 1903 gesehen und als erfahrener Operndirigent erkannt, dass dieser Stoff nach einer Vertonung schreit, die durch die bildstarke Musik viel mehr sagt als das gesprochene Wort, ganz abgesehen von dem Tanz, Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Da die Handlung im heutigen Israel spielt konnte Richard Strauss eine exotistische Tonsprache benutzen. Die fünf Juden, die auftreten, streiten sich in einem im komponierten musikalischen Chaos endenden Disput darüber, wie sich Gott dem Menschen zeigt und ob er sich überhaupt zeigt.
Regisseurin Andrea Schwalbach und ihre Bühnen- und Kostümbildnerin Britta Leonhardt verlassen sich ganz auf den Text, den Richard Strauss aus der deutschen Übersetzung von Hedwig Lachmann stark gekürzt übernommen hat, und natürlich auf die vielfarbige Musik, die mit unterschiedlichen Tonarten für die Protagonisten in Polytonalität die Grenzen der Tonalität sprengt und die schwüle Atmosphäre eines Abends mit einzelnen Windstößen in einem judäischen Garten perfekt beschreibt. Man schaut in eine schwarze Gruft, Abbild von Jochanaans Kerker, in der die stilisierte silberne Mondscheibe aufgehängt wird. Auf Bänken im Hintergrund sitzen Wachsoldaten, Juden und Nazarener als Beobachter. Im Boden ist ein Loch, die Zisterne, in der Jochanaan gefangen gehalten wird. Beim „Tanz der sieben Schleier“ verwandelt sich Salome durch ein übergezogenes Kleid in eine Kopie ihrer Mutter, der die Evangelisten Matthäus und Markus unterstellen, sie hätte Salome zu der Forderung nach dem Kopf des Jochanaan angestiftet. Doch Andrea Schwalbach sieht in Salome einfach eine zügellose verwöhnte Göre, der Normen und Werte wie die Ehrfurcht vor dem Leben nichts sagen und die aus Trotz, weil er sie abweist, den Kopf des Jochanaan verlangt.

Die finnische hochdramatische Sopranistin Helena Juntunen hat unglaublich viele Farben in der Stimme, so dass ihre Salome in den lyrischen Passagen sehr mädchenhaft wirkt. Mit fahlen Tönen drückt sie ihr Beharren auf dem obszönen Begehren nach dem Kopf des Jochanaan aus, und wenn sie den Kopf des Jochanaan an sich drückt und küsst wirkt sie abstoßend wie eine Wahnsinnige. Ihre Melodik ist sprunghaft und schnell und fällt auf durch krasse Sprünge und hohe Spitzentöne auf. Stimmlich und schauspielrisch eine Idealbesetzung! Gleich zu Beginn schert sie ihr blondes Haar und wirft es Jochanaan in seinen Kerker, um ihn aufzureizen. Mit ihrem weißen wehenden pyjamaartigen Anzug sieht sie aus wie eine 14-jährige, die noch nicht zu Bett gehen will. Ihr „Tanz der sieben Schleier“ mit lasziven orientalischen Themen, choreographiert von Kati Farkas, hat nichts mit Schleiertanz zu tun. Nach einem mit lasziven Bewegungen ausgeführten Striptease bis auf die Unterwäsche deutet sie durch ein übergestreiftes zu großes Kleid ihrer Mutter die These an, dass in Wahrheit Herodias ihre Tochter Salome angestiftet habe, den Kopf des Jochanaan zu verlangen. Der junge Page der Herodias, Edith Grossman, tritt als junger Tänzer dazu und wiegt sich mit der gleichaltrigen Salome im langsamen Dreivierteltakt. Erotische Anziehung wird vor allem durch die Musik ausgedrückt. Ja, es geht um Sex und Verführung. In der großen Szene mit dem abgeschlagenen blutigen Kopf des Jochanaan übertrifft Richard Strauss sämtliche Wahnsinnsszenen der Opernliteratur mit schrägen Harmonien und schrillen Tönen, und Juntunen zieht alle Register der Gestaltung mit einem makabren Requisit, Körper und Stimme. Nach der 20 Minuten langen Szene mit den Lippen des Jochanaan lässt sie den Kopf einfach in die Zisterne fallen. Diese drastische Nekrophilie: „Ich habe deinen Mund geküsst, Jochanaan“ sprengt in der Tat die Grenzen des guten Geschmacks und ist nichts für zarte Nerven.
Herodias ist eine dankbare Partie für reife Mezzosoprane. Gundula Hintz ist in ihrem gelben Königinnenkleid mit Schleppe eine skrupellose Herodias, die ihren zweiten Gatten als Kameltreiber beschimpft. Einerseits ist sie eifersüchtig auf Salome, der Herodes, ihr zweiter Gatte, Tetrarch von Judäa von Roms Gnaden, offensichtlich verfallen ist, andererseites ist es ihr recht, den verhassten Prediger Jochanaan mit Salomes Hilfe aus dem Weg zu räumen. Der Prophet Jochanaan wird verkörpert von Michael Kupfer-Radecky mit raumfüllender Stentorstimme, die schon zu Beginn aus dem Off das Kommen des Erlösers prophezeit. Er ist der einzige, der eine klare, ruhige und absolut tonale Sprache spricht. Mit flammenden Worten prangert er die Zügellosigkeit am Hof des Tetrarchen an. Seine schlanker Körper wirkt abgezehrt und wie ausgeblichen durch den Aufenthalt in der Dunkelheit: „Er ist ein Bildnis aus Elfenbein. Gewiss ist er keusch wie der Mond“, so Salome, fasziniert von seiner Stimme und von seiner Erscheinung. Die Ehebrecherin Herodias, die ihren ersten Mann verlassen hat, um dessen reicheren und mächtigeren Bruder zu heiraten, ist das wesentliche Feindbild seiner Predigt, in der er die Zügellosigkeit am Hof des Tetrarchen geisselt und Salome beschwört, sie möge sich von Christus erlösen lassen. Er lässt sich durchaus von Salome umschmeicheln, aber er ist ein Mann mit Grundsätzen und vor jeder Verführung gefeit.

Matthias Wohlbrecht als Herodes im lila Playboyanzug mit Netzhemd gibt den lüsternen, fast schon sabbernden Emporkömmling von Roms Gnaden, dessen Sinn nur darum kreist, mit seiner Stieftochter eine inzestuöse Beziehung aufzubauen. Intuitiv hat er begriffen, dass dieser Prediger, den er in seiner Zisterne eingekerkert hält, ein unantastbarer heiliger Mann ist, ein Prophet Gottes, der das Nahen des Erlösers verkündet. Herodes ist so scharf auf Salome, dass er ihr für einen Tanz vor seinen Augen unter Eid die Erfüllung eines jeden Wunsches verspricht. Herodes fühlt sich an seinen Eid Salome gegenüber gebunden, und damit gerät er in einen schweren Gewissenskonflikt, der mit der Exekution des Propheten endet. Eine Szene wie von Hitchcock erdacht, wie alle darauf warten, dass Jochanaans Kopf fällt. Sangmin Jeon beglückt mit einem wunderbaren lyrischen Tenor als Narraboth. Nachdem Salome ihn bezirzt hat, den Propheten vorzuführen, verzweifelt er und bringt sich um. Bis zu Salomes Tanz sitzt Edith Grossmann als Page mit der Leiche des Narraboth auf dem Schoß wie eine Pieta im Hintergrund.
Andrea Schwalbachs Inszenierung öffnet den Blick für die weibliche Sicht des Stücks und verdeutlicht die Macht, die eine sexuell attraktive Person auf eine andere haben kann. Herodias ist eben eine Opportunistin, die sich dem mächtigsten Regenten ihrer Zeit an den Hals wirft und dabei zwei Ehen zerstört. Salome ist eine verwöhnte amoralische Zicke, die die pädophile Lüsternheit ihres Stiefvaters und Onkels zur Durchsetzung ihrer perversen nekrophilen Phantasien benutzt. Am Schluss traut sich keiner, den Tötungsbefehl des Tetrarchen umzusetzen. Salome ergreift das herumliegende Schwert und bedroht damit Herodes. Dann erst fällt der Vorhang. Ende offen.
Patrick Hahn erzeugt mit dem Sinfonieorchester Wuppertal einen Spannungsbogen, dem sich niemand entziehen kann. Er hat die von Richard Strauss selbst herausgegebene Fassung für kleines Orchester – statt sechs Hörner nur vier, 80 statt 102 Musiker – benutzt, die in dem relativ kleinen Haus absolut authentisch klingt und nur ganz selten die Singenden übertönt. Die teils extremen Spezialeffekte einzelner Instrumente erzeugten eine ungewöhnlich dichte exotische Atmosphäre. Der Besuch hat sich definitiv gelohnt, denn diese Produktion hat das Werk ohne aufgesetzte Rahmenhandlung aus der weiblichen Perspektive spannend umgesetzt, und der sachkundige Einführungsvortrag der Dramaturgin Laura Knoll hat wichtige Einblicke in die Rezeptionsgeschichte des Salome-Mythos erläutert. Genial ist der mit QR-Code verfügbare elektronische Opernführer, der die Charakteristik der Protagonisten, den Einführungsvortrag und Interviews mit Regisseurin und Dirigent bietet. Nach „Tristan und Isolde“ ist „Salome“ ein weiterer überregionaler Erfolg der Intendantin Rebekah Rota.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Wuppertal / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Wuppertal/SALOME/Foto: Bettina Stöß