Die Kindheit ist die wahrscheinlich prägendste Zeit im Leben eines Menschen. Psychische und physische Eindrücke hinterlassen für immer ihre Spuren. Doch was, wenn diese Zeit von einem Machtungleichgewicht geprägt ist? Diese Frage stellt Regisseurin Isabel Ostermann – nicht immer mit vollem Erfolg – in ihrer Neuinszenierung von Richard Strauss „Salome“ am Staatstheater Braunschweig, die am 9. Dezember Premiere feierte. Dafür glänzen das Orchester und Dorothea Herbert in der titelgebenden Hauptrolle. (Besuchte Vorstellung am 22. Dezember 2023)
Kahl und kalt ist es im Hause des Herodes, als seine Stieftochter Salome zur Familienfeier heimkehrt. Die grauen Wände des Wohlstandsbungalows wirken so grau und lieblos wie die Beziehungen seiner Bewohner:innen. Schwere – mal verschleiernde, mal Einblicke gebende – Gardinen teilen den Raum und den dahinterliegenden Flur. Für die junge Frau ist dieser Ort ein Ort des Schreckens, ein Ort der Erinnerungen an die Traumata ihrer Kindheit. Isabel Ostermann, Operndirektorin und stellvertretende Intendantin am Staatstheater Braunschweig, konzentriert sich in ihrer Interpretation der Strauss’schen Oper basierend auf dem Drama von Oscar Wilde auf die Frage nach den Gründen für das selbstzerstörerische Verhalten der titelgebenden Hauptfigur.
Die Regisseurin findet ihre Antwort weniger in einem (häufig auf die Opernbühne gebrachten möglichen) sexuellen Missbrauch der jungen Salome durch ihren Stiefvater, sondern im so genannten Adultismus, dem ungleichen Machtverhältnis zwischen Erwachsenen auf der einen und Kindern und Jugendlichen auf der anderen Seite. Doch statt Kritik an dem gesellschaftlich verankerten Machtsystem subtil oder offensichtlich in die Inszenierung einfließen zu lassen, wählt Ostermann allzu offenkundig belehrend wirkende Methoden. Als der Schleiertanz beginnt, fällt der schwarze Vorhang. Fast zehn Minuten lang erfahren die Zuschauer:innen aus auf den Vorhang projizierten Texten der Sozialpädagogin und Antidiskriminierungs-Trainerin ManuEla Ritz über Formen des Machtmissbrauchs durch Erwachsene und ihre Auswirkungen auf die Kinder. Vermutlich wesentlich eindrücklicher wäre eine Einarbeitung der fraglos viel Wahrheit enthaltenden Thesen in den Inszenierungsverlauf gewesen. So gerät der Tanz der sieben Schleier regietechnisch zur Umräumpause für das Bühnenbild.
Als sich der Vorhang wieder hebt, beginnt die Vergeltung der Salome. Hatte zuvor bereits Narraboth die Rachlust der Protagonistin zu spüren bekommen, sind oder werden nun Herodes, Herodias und Jochanaan an drei Säulen in der Tiefe des grauen Bühnenbildes gefesselt. Es entspinnt sich schließlich ein spannendes und vielschichtiges Spiel zwischen den Familienmitgliedern, während der Prophet mit verbundenen Augen auf dem Boden sitzt. Im Schlussgesang findet Ostermann in ihrer Inszenierung zu jener Subtilität, die einige Momente zuvor noch abgängig gewesen war. In feiner Personenführung wird deutlich, wer der eigentliche Mittelpunkt von Salomes Gedankenwelt und der wahre Motivator ihres Handelns ist. Hier ist die Faszination für den Fremden nur ein Deckmantel für das Verlangen nach Vergeltung.
Dabei lebt die Inszenierung vor allem von ihrer Hauptdarstellerin. Dorothea Herbert als Salome navigiert mit höhensicherer Brillanz und großer Ausdrucksintensität durch den Abend. Neben ihrer gesanglichen Gestaltungskraft beweist die Sopranistin auch durch kleine Gesten und mimische Spielereien darstellerisches Vermögen. Nuanciert changiert sie zwischen kalkulierender Frau mit Wissen über ihre eigene Verführungskraft und dem Rückfall in kindliche Verhaltensmuster. Diese Salome ist kein rebellischer Teenager, sondern eine erwachsene Frau mit Erfahrungen und Reflektion.
Michael Mrosek an ihrer Seite ist ein geerdet-sonorerer Jochanaan, der seine Rolle mit intensiver Tongebung gestaltet. Mit schlankem und dennoch kraftvollem Klang mausert sich Hans-Georg Priese als Herodes zum wahren Gegenspieler Salomes. Rita- Lucia Schneider als resignierende Herodias und Matthew Peña als unverbraucht-aufleuchtender Narraboth (und später ereifernder 1. Jude) komplettieren das führende Gesangsensemble.
Mal zurückgenommen begleitend, mal rauschhaft die Handlung vorantreibend und stets mit viel Rücksicht auf die Sänger:innen gestaltet währenddessen Generalmusikdirektor Srba Dinić sein feingliedriges Dirigat. All das was auf der Bühne geschieht oder eben nicht, das Staatsorchester Braunschweig vermag Strauss‘ reichhaltige und anspruchsvolle Partitur aus klassischen Harmonien und atonalen Elementen farbenreich aus dem Orchestergraben klingen zu lassen. Nur der Schleiertanz wirkt in einigen Momenten etwas unentschlossen und nicht seine volle Durchschlagskraft entfaltend – doch ganz sicher, ob das am Orchesterklang an sich, dem inszenatorischen Leerlauf oder der Unsicherheit des Orchesters darüber liegt, ist man sich nicht.
- Rezension von Svenja Koch / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Staatstheater Braunschweig / Stückeseite
- Titelfoto: Staatstheater Braunschweig/SALOME/Foto @ Joseph Ruben