
Alljährlich wird der Jahreswechsel in den Konzerthäusern dieser Welt mit der 9. Sinfonie in d-Moll, op. 125, von Ludwig van Beethoven gefeiert. Im kommenden Jahr wird sich die am 7. Mai 1824 in Wien stattgefundene Uraufführung des Werkes zum 200. Mal jähren, wodurch diese Sinfonie noch mehr ins Bewusstsein rücken wird. Zweifelsohne sind ihre Singularität und Stellenwert mit dem universalen Humanitätsanspruch unerreicht. Die Gefahr einer Übersättigung des Publikums mit dem immer wieder berührenden, doch irgendwann auch abgedroschen erscheinenden Schlusschor „Ode an die Freude“ ist bei dieser Spielplan-Quantität natürlich real. Dem Gewandhausorchester gelang es mit seinen beiden modernen Zyklen der Beethoven-Sinfonien – sich selbst und die Aufführungstradition hinterfragend – die Werke immer wieder neu zu entdecken: Sei es durch Befolgung Beethovens originaler, und damit stürmisch-rapider Metronomzahlen durch Riccardo Chailly (aufgenommen 2007 – 2009), oder durch Neueinstudierung der Partituren mittels der Beethoven-Neuausgabe von Jonathan del Mar, mit denen Herbert Blomstedt in den Jahren 2014 – 2017 zu einer erfrischend vital und agil klingenden Lesart fand. Beide Leipziger CD-Einspielungen dieser ehemaligen Gewandhauskapellmeister gelten mittlerweile als Referenzaufnahmen der jüngeren Rezeptionsgeschichte Beethovens. (Besuchtes Konzert am 29.12.2023)
Für den diesjährigen Jahreswechsel 2023/24 konnte das Gewandhausorchester für die musikalische Leitung seiner Neunten mit dem österreichischem Dirigenten Manfred Honeck einen weiteren ausgewiesenen Kenner für das Werk Beethovens gewinnen. Während andernorts Beethoven immer und wieder „entschlackt“ oder gar „entstaubt“ wird, behält Honeck die moderne, große Orchesterbesetzung bei und findet so Distanz zur historischen Aufführungspraxis. Als Orchestermusiker an der Viola spielte der Dirigent bei den Wiener Philharmonikern gar selbst in der mittlerweile etwas antiquiert angesehenen, eher romantischen Beethoven-Lesart eines Leonard Bernsteins. Mittels Dekonstruktion der Partitur ergründet der Dirigent althergebrachte und vermeintlich überholte Aufführungsmuster und findet so zu seinem ganz individuellen Stil: Jede Dynamikbezeichnung, Tempiwechsel, Vorgaben der Akzentuierung und gar die Instrumentierung beleuchtet er im Probenprozess aufs Genauste, immer mit dem Ziel den wahren Vorstellungen Beethovens möglichst nahe zu kommen. Honecks schriftliche Abhandlungen über mögliche, mitunter von anderen Dirigenten verkannte, Intentionen des Komponisten sind so aufschlussreich wie kontrovers. Folgerichtig entwickelte das Gewandhausorchester unter seinem Dirigat eine Interpretation von Beethovens Neunter, welche radikal und kompromisslos zugleich schien. Mit einer Aufführungsdauer von knapp über 60 Minuten näherte Honeck sich den Tempi Chaillys, legte jedoch in Fragen von Phrasierung und Dynamik mehr individuelle Akzente. Obgleich diese dank vorbildlicher Orchesterdisziplin penibel einstudiert wurden, entwickelten sie eine Publikumswirkung, die doch aus dem Affekt zu kommen schien. Besonders überraschte der Adagio-Satz, welcher gar leicht schneller als das Scherzo, in seiner Raschheit verblüffte. Die kontrastbildende Wirkung dieses langsamen Satzes kam so lediglich unzureichend zur Geltung, die hymnischen Fanfaren des ansetzenden Freudenthemas tänzelten so dahin, das Majestätische und Stolze ihrer Motivik ging verloren. Und dennoch: Honeck und das Gewandhausorchester bewiesen gerade durch ihre konsequente Lesart, dass auch 200 Jahre nach ihrer Uraufführung der Mythos um Beethovens Neunte noch lange nicht auserzählt ist und das Werk damals wie heute von Belang ist und mit seinen Idealen von Brüderlichkeit aufzuwühlen weiß.

Das Solistenquartett glänzte mit den mozartschen Zwischentönen der Sopranistin Julia Kleiter, dem demütig-mahnenden Bass-Solo Tareq Nazmis sowie dem rührend phrasierendem Tenor von Maximilian Schmitt, vollendet durch die klare, zugleich klangschöne Mezzo-Stimme Catriona Morisons. Der MDR-Rundfunkchor und der GewandhausChor sowie der GewandhausKinderchor strahlten dazu in wunderbarer harmonischer Vollendung. Die Chöre gestalteten durch die straffen Tempi Honecks den Schlusschor mehr klagend-flehend als vor Freude jubelstrahlend.
Der derzeitige Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons hat erst kürzlich mit den Wiener Philharmonikern einen viel diskutierten Beethoven-Zyklus eingespielt. In Leipzig hingegen fokussierte sich der lettische Dirigent zunächst auf einen, erst kürzlich bei der Deutschen Grammophon erschienen, Zyklus der Bruckner-Sinfonien. Insofern in den kommenden Jahren das Gewandhausorchester gedenkt, einen weiteren Beethoven-Zyklus aufzuführen, hat sich Manfred Honeck schon jetzt mit seiner die Ohren öffnenden und geläufige Hörgewohnheiten anzweifelnden Neunten für dessen musikalische Leitung qualifiziert.
Unser Tipp: Der Livestream des Konzerts vom 31. Dezember 2023
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Gewandhausorchester Leipzig
- Titelfoto: Gewandhausorchester/Neujahrskonzert Dezember 2023/ Foto @ Konrad Stöhr