Der Mailänder Ring am Teatro alla Scala legt es darauf an, Europas hochkarätigster Ring zu werden – beim Anblick der Besetzungsliste könnte man zumindest diesen Eindruck bekommen. Der Regisseur bereits von Queen Elizabeth II zum Ritter geschlagen, der Dirigent ein Weltstar, eine unstrittige und beliebte Besetzung in fast jeder Rolle. Nun hat es Christian Thielemann jedoch an der Achillessehne, fällt aus, und Johannes Martin Kränzle fällt wegen seiner schweren Erkrankung für die Partie des Alberich auch aus. Ob der Startschuss des neuen Rings mit diesen beiden besser gewesen wäre, ist eine recht müßige Frage. Dank der Regie ist er nämlich bereits am Anfang schwer zu retten.(Besuchte Vorstellung am 3. November 2024)
Am meisten Freude hatte wohl Emma Kingsbury. Die Kostümdesignerin siedelt Stoffmassen an zwischen Arthur Rackham und Renaissance, zwischen Ähnlichkeiten mit Guy Cassiers’ letztem Mailänder Ring der 2010er Jahre und (zumindest in Alberichs Fall) dem Ganzkörperanzug, den Gustav Neidlinger bereits 1965 in Bayreuth trug. Stünden diese Kostüme im Keller des Hauses Wahnfried, stünden sie dort bestens, um von Jahrzehnten der Nachwelt für ihre kunstvolle, detailreiche Ausarbeitung bewundert zu werden. Leider jedoch müssen in diesen Kostümen eine Oper bestritten werden. Die erste Szene offenbart direkt das vernichtende Problem der Inszenierung von Sir David McVicar: Darstellung ist ein Fremdwort aus einer Sprache, die diese Inszenierung nicht erreicht. Alberichs Verführungsversuche begrenzen sich auf artiges Warten auf die Rheintöchter am Fuße dreier blau getünchter Hände, auf denen die Sängerinnen für ihn unerreichbar herumturnen. „Garstig glatter glitschiger Glimmer! Wie gleit ich aus!“ – schön wär’s! Die eingesetzte Drehbühne hilft kaum; man denkt höchstens an klügere Einsätze einer solchen in anderen Ring-Inszenierungen. Für des Rheingolds Erscheinen strahlt güldenes Licht, für Loges Auftauchen rotes Flackern an der Wand (Licht: David Finn, Video und Projektionen: Katy Tucker). Seufz.
Ähnlich gestaltet sich der Rest. Mit Mühe und Not wird erfüllt, was das Libretto zwingend vorschreibt, teilweise in darstellerischen Handlungen, die an Peinlichkeiten grenzen und der angeheuerten Sängerbande absolut nicht würdig sind. Donner kündigt frech an, die Riesen zerschmettern zu wollen und darf nach etlichen Sekunden der Verzögerung auch versuchen, dies möglicherweise in die Realität umzusetzen. Loge wird angehalten, beim Erscheinen seiner flackernden Melodien stets mit den Händen zu wackeln. Zudem bekommt er unglücklicherweise zwei stumme Tänzer kredenzt (Choreografie: Gareth Mole), die stets direkt hinter ihm stehen und als zwei zusätzliche Paar Arme fungieren. Abgesehen von der Unnötigkeit dieser Idee funktioniert sie visuell nur für das Publikum, das im Parkett exakt mittig sitzt: der Rest sieht vor allem die weiß geschminkten Köpfe der Tänzer, die Norbert Ernst überragen.
Unter diesen Bedingungen entsteht ein Bühnengeschehen, in denen zwischenmenschliche Beziehungen oder zumindest authentische Reaktionen faktisch nicht existent sind. McVicar schafft es höchst effizient, die natürlichen Qualitäten des zu inszenierenden Werkes – leichtfüßig-bissiger Humor, launenhaftes Schwanken zwischen Spaß und Unheil eines Abenteuermärchens, düstere Töne am Horizont sowie das gesamte Potenzial des Egoclashes zwischen eitlen Göttern und gierigen Zwergen – in zweieinhalb Stunden qualvoll ersticken zu lassen. Da helfen auch ein paar müde Symbole nicht: Nibelheim als goldener Totenschädel, das Rheingold als ideales Naturwesen (dargestellt von einem Tänzer), dem eine goldene Maske wie eine Extremität blutig entrissen wird, eine leuchtende Erdkugel über den Göttern schwebend während den finalen Takten. Wohlgemerkt, in der nächsten Oper wird es qua Wotans neuen Plänen um irdische Menschen gehen. Man beglückwünsche die Regie zu dieser Erkenntnis.
Da schwächelt selbst der Göttervater. Michael Volle als Wotan singt gewohnt textdeutlich, jedoch ungewohnt formlos, phrasiert standardmäßig – von seiner üblichen leicht griesgrämigen Autorität und Aufleben in dieser Rolle keine Spur. So bleibt sein nennenswertester Einsatz des Abends wohl oder übel sein plötzlicher Gefühlsausbruch „Vergeh’, frevelnder Gauch!“. Das ist freilich kein Verbrechen, nur bei einem Bariton von Volles üblichem Format eben eine Enttäuschung. Ólafur Sigurdarson als Gegenspieler Alberich hingegen steigert sich von einem etwas dünneren Klang im ersten Auftritt zu einer Kernigkeit in seiner Nibelheim-Szene, in der er etliche schneidende Spitzentöne kraftvoll in die Höhe stemmt und hie und da ein keckernd-helles Lachen einstreut, um den Charakterisierungsmangel der Inszenierung entgegenzuwirken. Eine der besten Leistungen des Abends erbringen die Riesen – Jongmin Park stiftet einen herrlich satten Bass, der in sanfteren Tönen Fasolts sehr unbeholfene, aber ehrliche Zuneigung offenbart, klanglich saalfüllend und streng ohne eine Spur von Grobschlächtigkeit. Ain Angers Fafner hingegen kontrastiert stimmlich mit einer subtilen Gier, die sich den zarteren Tönen seines Bruders entzieht.
Norbert Ernst leiht dem inszenierungsbedingt spaßbefreiten Loge weniger Metall und viel Legato, das zusammen mit seinen Trippelschritten und den sechs Armen den Eindruck eines emsig beschäftigten Käfers erschafft – immerhin der Ansatz eines kleinen Späßchens. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Mime verwehrt sich der Langeweile und legt einen fast schon wilden kleinen Auftritt hin. Donner und Froh (eine ebenfalls kontrastierende Besetzung, Andrè Schuen mit weicherem Bariton und Siyabonga Maqungo mit gewohnt stechenden Höhen) vollenden die Männerrollen. Fricka wird von Okka von der Damerau dankenswert lebendig gesungen; es bleibt zu hoffen, dass sie mindestens einer Szene der kommenden Walküre ein wenig Lebensblut einspritzen kann. Freia (stark: Olga Bezsmertna) und die homogen tönenden Rheintöchter Andrea Carroll, Svetlina Stoyanova und Virginie Verrez erfreuen ebenfalls; Erda (Christa Mayer) transportiert die Bedeutungsschwere ihrer Botschaft in harmonischem Einklang mit dem Dirigat, das ihr dafür glücklicherweise auch Zeit und Ruhe gönnt.
Im Graben steht für diese Aufgabe die ersten drei Vorstellungen Simone Young, bevor Alexander Soddy die letzteren drei übernimmt. Young offenbart einmal wieder ihr Faible für ominöse Bläser, dessen Einsätze sie gern herausspielen lässt – hie eine aufsteigende Fagottmelodie, da eine angemessen unheilvolle Untermalung des Auftauchens des Entsagungsmotivs in der ersten Szene, sowie eine austarierte Balance zwischen den Streichern und Bläsern in der Ouvertüre. Das Dirigat fügt sich der Ästhetik der Inszenierung, illustriert sorgsam wechselnde Stimmungen, zieht aber wenige wirklich kräftige Register. Angesichts der Inszenierung befindet es sich ohnehin in einer unangenehmen Zwickmühle: bleibt das Dirigat linientreu, wagt es möglicherweise nicht genug und könnte ins Hübsche verkommen; bricht es aus, grätscht es der Regie ins Konzept und untermalt zusätzlich die Abwesenheit jeglicher Charakterisierung auf der Bühne. So entscheidet Young sich für eine diplomatische Lösung, für die ihr am Ende gedankt wird.
Für die Fortsetzung des Rings schaut es jedenfalls düster aus. Eine beziehungsbefreite Walküre verspricht eine Desinfektion des Geschehens von lästigen Gefühlen, ein Schachspiel von klinischer Reinheit mit ebenjenem Charme von Schrittchen-vor, Schrittchen-zurück einiger ganz entzückend geschnitzten Figuren. Die Regie könnte das Ruder noch gewaltig herumreißen – Anzeichen, dass sie dies gedenkt, sind im Rheingold aber nicht zu finden. Europas hochkarätigster Ring droht, auch der langweiligste zu werden. Gerade für eine konservativ gesinnte Inszenierung sollte das kein Ziel sein.
- Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Teatro alla Scala / Stückeseite
- Titelfoto: Teatro alla Scala/DAS RHEINGOLD/Foto- Credit: Brescia/Amisano – Teatro alla Scala