Premiere am 6. September 2014
Schicksal ohne Ausweg – musikalisch überzeugend
Nicht weit entfernt hat Essen sie schon länger, Dortmund hatte sie auch und kriegt sie wieder, Hamburg kriegte sie durch den Dortmunder Intendanten, Osnabrück kriegt sie nächstes Jahr, und Münster eröffnete mit ihr die neue Spielzeit, nämlich der Oper „Carmen“ von Georges Bizet auf den Text von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée. Premiere war letzten Samstag, die musikalische Leitung hatte GMD Fabrizio Ventura, die Inszenierung besorgte Georg Köhl.
Während es heute weitgehend üblich ist, zwischen den Musiknummern die gesprochenen Dialoge der Originalfassung aufzuführen – typisch für die „opéra comique“ – wählte man in Münster stattdessen die nach Bizet’s Tod von Ernest Guiraud komponierten Rezitative, vielleicht, weil Opernänger ungern Prosa sprechen?
Mager war das Einheitsbühnenbild von Martin Warth – ein zwischen hellem und dunklem Gelb wechselndes Viereck im Bühnenhintergrund mit seitlichen Lamellenwänden für den Rest der Bühne, darin Öffnungen für Auf- und Abgänge. Das erstere sollte wohl zusammen mit einem grossen Ventilator unter dem Bühnenhimmel spanische Hitze andeuten. Für die Kneipe von Lilas Pastia im II. Akt wurden dann Tische, Stühle und eine Lichterkette aufgebaut, die Stühle dann in schlechter Regietradition umgeschmissen. Im dritten Akt lagen einige Kisten als Schmuggelware und erstaunlicherweise zwei Sperrmüll-Sofas herum, im vierten Akt war statt Vorplatz einer Arena nur die leere Bühne zu sehen. Diese ausweglosen Räume sollten wie die Regie wohl zeigen, daß Carmen aus der Enge ihres vorgegebenen Schicksals als Männer aufreizende „Bohémienne“ – Angehörige von Sinti und Roma nach heutigem Sprachgebrauch – nicht fliehen konnte. Wovon sie ausbrechen wollte, zeigten z.B. in Lilas Pastias Kneipe die Sex-Szenen bis hin zu „Sado“.Auch das Idyll eines bürgerlichen Lebens, das sich Micaëla und Don José aus Klötzen im Sandkasten in Form einer Dorfkirche während des Duetts im I. Akt bauten, war für niemanden eine Lösung. Entsprechend wurden auch reine Orchesterstücke bebildert. Bereits im Vorspiel versuchte Carmen beim Erklingen des Schicksalsmotivs vergeblich, aus dem Bühnenraum auszubrechen. Später zeigten die Zwischenspiele ihr kurzes Glück mit Don José sowie im letzten ihre Hörigkeit zu Escamillo. Im Duett der beiden im IV. Akt sank sie quasi ihn anbetend auf die Knie. Als Ausweg erschien ihr dann nur noch der durch die Karten angekündigte Tod, den sie sich mit Hilfe des jähzornigen Don José zufügte, warum gleich mehrfach bleibt unklar.. Ansonsten verlief die Handlung wie vom Publikum erhofft und gewünscht.. Die Kostüme von Ursina Zürcher mit französischen Soldatenuniformen und ansonsten heutiger Bekleidung waren nicht besonders originell, die Zöpfe der Micaëla eher unfreiwillig komisch.
Musikalisch hatte die Aufführung hohes Niveau, vor allen bei Tara Venditti in der Titelpartie. Mit ihrer Erscheinung, ihrem Spiel und ihrer in allen Lagen makellos geführten Mezzo-Stimme beherrschte sie ohne platte Erotik die Aufführung. Natürlich gab es Beifall nach den „Hits“ wie Habanera, Seguidilla etc. Fast noch eindrucksvoller gelang in der Kartenszene des III. Aktes ihr tiefliegendes kurzes Andante über den durch die Karten angekündigten Tod. Zusätzlich war ihr Französisch sehr gut verständlich.
Letzteres galt auch für den Don José von Adrian Xhema. Glaubhaft spielte er und sang mit seiner in allen Lagen ansprechenden Tenorstimme den verführten, enttäuschten und jähzornigen Liebenden. Besonders war da zu erwähnen im II. Akt seine Arie über die Liebe zu Carmen während der Haft gesanglich pp bis zum hohen b.- besonders schwierig zu singen! Auch der Triller gegen Ende seines Auftrittlieds im II. Akt erklang deutlich.
Als Carmens Gegenspielerin Micaëla überzeugte Sara Rossi Daldoss mit sehr legato geführtem Sopran, natürlich im Duett mit Don José über den von den Mutter weiterzugebenden keuschen Kuß, noch mehr aber in der „Air“ des III. Aktes mit leuchtenden Spitzentönen verdrängend die Angst vor Carmen und den Schmugglern.
Für einen Bariton ist die Partie des Stierkämpfers Escamillo wegen ihrer teils tiefen Lage gefürchtet. Dies meisterte Gregor Dalal eindrucksvoll, das Torero-Lied mit rhythmisch genau-punktierten 16-teln rief natürlich Zwischenbeifall hervor. Ob er wirklich die für den geckenhaften Macho aller Bühnenmachos notwendige Ausstrahlung hatte, muß jede Zuschauer(in) für sich entscheiden, aber welcher Escamillo hat die schon?
Alle anderen mittleren und kleineren Partien waren gut besetzt, vor allem die stets im Doppelpack auftretenden Zigeunerinnen Mercédès von Lisa Wedekind und Frasquita von Eva Bauchmüller. Besonders in den Ensembles gefielen auch die Schmuggler Dancaïro (Youn-Seong Shim) und Remendado (Philippe Clark Hall ) sowieJuan Fernando Gutiérrez als Sergeant Moralès. Für den Zuniga fehlte Plamen Hidjov ein wenig die flexible kräftige Bassstimme.
Sehr zu loben waren Chor und Extrachor in der Einstudierung von Inna Batyuk. Der gefürchtete Chor der Zigarettenarbeiterinnen im I. Akt gelang punktgenau, die späteren Chöre klangen stimmgewaltig, auch weil der Chor wohl wegen des Extrachors immer ohne viel Lauferei passend zum Dirigenten hin aufgestellt war.
Seit 20 Jahren gibt es denTheaterkinderchor am Gymnasium Paulinum. Auch diesmal erfreute er im I. Akt die Soldaten parodierend Ohren und Augen der Zuschauer – wieder in der Einstudierung von Rita Stork-Herbst und Jörg vonWensierski.
Am meisten gebührt grosses Lob GMD Fabrizio Ventura und dem Sinfonieorchester Münster. Das Zusammenspiel zwischen Bühne und Orchester klappte gut, auch in schwierigen Chorpassagen und schnellen Ensembles wie etwa dem Quintett im II. Akt. Auch die Temposteigerung in den Strophen des „Zigeunerlieds“ zu Beginn des II. Aktes gelang fast atemberaubend, wobei Bizet ja selbst Metronomangaben vorschlägt. Manchmal müssen Chor und Orchester „krachen“ in dieser Oper und das taten sie auch. Wichtiger sind aber genauer Rhythmus und leichte Durchsichtigkeit des raffinierten Orchestersatzes und die waren zu hören. Bizet schreibt sehr häufig p, pp, bis hin zu pppp vor, bei der Einleitung der Habanera sogar „soviel pp wie möglich“ Auch solche Delikatessen wurden deutlich..
Viele Soli hatte Orchestermitglieder zu spielen, erwähnt sei hier als Beispiel das wunderschön geblasene Hornsolo in der Einleitung der Air von Micaëla im III. Akt.
Im ausverkauften Haus gab es nach Zwischenapplaus langen Beifall mit Bravos für die Sänger der Hauptpartien, und für den Dirigenten, etwas weniger für das Leitungsteam. Für das erklärte Ziel der Theaterleitung, die Zuschauerzahl weiter zu steigern,.wird diese Aufführung hilfreich sein.
Kritik von: Sigi Brockmann/Der Opernfreund 8. September 2014
*Fotos Oliver Berg
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