Opernhaus Bonn / Foto © Thilo Beu

Oper Bonn: „Fokus ´33“ – Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben

Generalintendant Dr. Bernhard Helmich bei der Ausstellungseröffnung/Foto © Anna Marx

Das von Andreas K.W. Meyer initiierte Projekt „Fokus ´33″ fand einen wissenschaftlichen Abschluss vom 18. bis 21. Mai 2023 im Foyer der Oper Bonn. Dr. Bernhard Helmich, Intendant, begrüßte die 17 Referenten und Referentinnen und insgesamt etwa 50 Teilnehmende am Symposion der Universität Bonn zum Thema „Dis | kontinuitäten: Zur Historiografie der Oper zwischen Weimarer Republik und früher Bundesrepublik“ als Hausherr. Die aus den USA, Australien, Malta, Großbritannien, Italien und vielen deutschen Städten angereisten musikwissenschaftlich Forschenden sprachen über die kritischen Kipppunkte 1918/19, 1933 und 1945 im Hinblick darauf, welche Diskontinuitäten und welche Kontinuitäten es gegeben habe. Am Ende des Symposions stand für alle die Premiere von Franz Schrekers Berliner Oper „Der singende Teufel“, die 1928 von der Kritik verrissen wurde und die in Bonn erstmals seitdem vollständig aufgeführt wurde.

 

Veranstalter Tobias Janz, Musikwissenschaftler der Universität Bonn, bedankte sich für die Gastfreundschaft und kündigte den ersten Referenten, Anselm Gerhard von der Universität Bern mit einer Keynote, einem Einführungsvortrag, an. Der beklagte, dass es keine systematische Erfassung der Spielpläne gibt und hat exemplarisch in Zehn-Jahres-Abständen die Top 10 der meistgespielten Opern im deutschsprachigen Raum erfasst. Dabei stellte sich heraus, dass Wagner in der NS-Zeit keineswegs häufiger gespielt wurde als zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die rund 100 deutschsprachigen Opernhäuser, viele davon in der Trägerschaft von Städten, seien alle mehr oder weniger defizitär gewesen, weil sie mit 800 bis 1.200 Plätzen keine Chance gehabt hätten, ihre Kosten durch Einnahmen aus Eintrittsgeldern zu decken. 40% Kostendeckung durch Kartenverkauf wie in der Pariser Oper seien kaum erreicht worden, und volle Kostendeckung wie in der Arena von Verona mit mehreren tausend Plätzen die absolute Ausnahme.

Auffallend war in den 20-er Jahren der große Erfolg der Opern Giacomo Puccinis, die Verdi-Renaissance ab 1924, vermutlich ausgelöst durch Franz Werfels Verdi-Roman, und die konstante Beliebtheit von Bizets „Carmen“. Als möglicher Grund wurde genannt, dass die Schallplatte es gestattete, Arien und Chöre zu vervielfältigen und auf dem Grammophon zu Hause abzuspielen, und da waren Nummernopern klar im Vorteil. Bis etwa 1970 wurden alle Opern in der Landessprache aufgeführt. Bis heute hat sich am Kanon dieser Opern nicht viel geändert. „Carmen“, „La Traviata“, „Nabucco“, „La Bohème“, „Tosca“ und „Die Zauberflöte sowie „Fidelio“ sind immer noch Kernrepertoire und Publikumslieblinge. Unter dem Stichwort „Dis|Kontinuitäten“ berichteten Forscherinnen in mikrohistorischen Vorträgen über einzelne Opernhäuser bzw. Produktionen. So entstand ein Mosaik von Ergebnissen. Als Zäsuren kristallisierten sich heraus das Kriegsende 1918 und die Machtergreifung 1933. Schönbergs unvollendetes Monumentalwerk „Moses und Aron“ sei, so Adorno, wohl gegen das Heraufdämmern des Nationalsozialismus geschrieben worden.

Áine Sheil von der York University berichtete über die Berliner Kroll-Oper, die in der Zeit vom 1.1.1924 bis zum 3.7.1931 mit ihren 2.500 Plätzen bespielt wurde, deren moderne Produktionen den Geist des Bauhauses atmeten. Die abstrakten Bühnenbilder zum „Holländer“ und „Hoffmanns Erzählungen“ wirkten stilbildend. Man glänzte mit Strawinskys „Die Geschichte vom Soldaten“ mit wenigen Musikern in Alltagskleidung und Hindemiths „Neues vom Tage“ als Dirigententheater mit Otto Klemperer, konnte damit aber kein Massenpublikum erreichen. Die meistgespielte Oper war „Carmen“ mit 78 Vorstellungen in einer konventionellen Inszenierung, „Die Fledermaus“ kam auf 98 Aufführungen. Konservative Kritiker empfanden die Kroll-Oper mit ihrem Anspruch als Volkstheater als Bedrohung.

Brüssel war, deutlich vor Paris, eine Bastion zeitgenössischen Musiktheaters. Kristin van den Buys von der Universität Brüssel berichtete, dass am 29.2.1932 La Monnaie einen „Wozzeck“ in französischer Übersetzung herausbrachte, die der Komponist Alban Berg sehr gelungen fand. Vor der Idee, 30% neue Produktionen zu zeigen, verabschiedete man sich schon 1927 auch aus finanziellen Gründen. Es zeigte sich, dass man mit moderner Musik selbst in einer Großstadt maximal 200 Zuschauer anlocken konnte. Nach der Machtergreifung 1933 spielte man keine modernen Opern mehr, verkürzte die Saison und um zwei Monate und setzte 30% Operetten auf den Spielplan. Der Umsatz beim Verkauf von Eintrittskarten fiel um zwei Drittel im Vergleich zu 1927.

Daniel Boucher von der Universität Birmingham ging auf die „Zeitoper“ der Weimarer Republik ein. Sie ist als Kunstform gekennzeichnet durch eine neue Musikdramaturgie. Was Worte nicht sagen können, wird ausgedrückt durch Musik, Pantomime, Ausdruckstanz, Farbe und Licht. Die Ästhetik ähnelt der eines Stummfilms. Typisch sind auch Maschinenwesen in einem Stil von Otto Dix und George Grosz als Teil der Dramaturgie. John Gabriel von der University of Melbourne ging am Beispiel von Kreneks „Jonny spielt auf“ mit Jazz-Elementen und Blackfacing und „Leben des Orest“ auf die Zeitoper am Ende der Weimarer Republik ein. Er betonte, dass diese Opern nur von einer kleinen Avantgarde verstanden wurden.

Über „Nazimusik“ informierte Max Erwin von der Universität Malta. Die jüdischen Komponisten waren verfemt, und es traten an deren Stelle „arische“ Komponisten der zweiten und dritten Reihe, die zum Teil die Tonsprache von Weill und Krenek kopierten. „Die Heimfahrt des Jörg Tillmann“ von Franz Maurick war sehr populär und wurde in Stuttgart und in Düsseldorf insgesamt 70 mal aufgeführt. Meistgespielt waren 1942/43 Butterfly, Tosca, Bohéme, Figaro, Waffenschmied, Wildschütz, Fidelio und Rigoletto, denn Josef Goebbels war ein bekennender Puccini-Fan.

Theater Bonn/Logo „Focus 33“

Friedrich Geiger von der Universität München stellte, ausgehend von der Düsseldorfer Ausstellung von 1938 den Feldzug des NS-Regimes gegen „den Jazz“ differenziert dar. Der Jazz habe von 1925 bis 1955 eine rasante Entwicklung gemacht, und Ragtime, Foxtrott, Dixieland und Blues seien schon Mitte der 20-er Jahre in Deutschlands etabliert gewesen. Die Verwendung von starken Rhythmen, Synkopen, gestopften Trompeten, Saxophonen und Banjos seien von Krenek in „Jonny spielt auf“ angeeignet worden. Es habe in der NS-Zeit durchaus Unterhaltungsbands wie die von Paul Whiteman oder Teddy Stauffer gegeben, die Swing spielten, die typische Konstellation der zweigeteilten Band mit Melody Section und Rhythm Section also übernommen hatten, die auch bei NS-Größen beliebt waren. Werner Egk habe 1927 eine „Studie zu Judenmusik“ mit Tritoni und chromatischen Läufen geliefert, die durchaus denunziatorisch gemeint war. Mit dieser Musik charakterisierte er in seiner Oper „Peer Gynt“ die „minderwertige“ Troll-Welt. Diese Oper hatte in der 50-er Jahren einen beklemmenden Erfolg. Der Jazz, den die Amerikaner nach dem Krieg nach Europa brachten, hatte sich weiterentwickelt und wurde von Rolf Liebermann in „Leonore 40/45“ und vor allem in Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“, wo eine Jazz-Combo integriert ist, aufgegriffen.

Benedetta Zucconi von der Universität Bonn berichtete von „Opernkrise“ der Zwischenkriegszeit und von der Musealisierung der Oper nach dem zweiten Weltkrieg. Oskar Fritz Schuh habe schon 1948 festgestellt, dass das Kernrepertoire aus 30 bis 40 Werken besteht, die immer wieder gespielt werden. Kurt Honolka stellte 1964 eine Diskrepanz zwischen dem, was das Publikum wünscht, und dem was geboten wird, fest. „Der Rosenkavalier“ sei wohl die letzte Oper, die in das Kernrepertoire aufgenommen wurde.

Von einer sehr interessanten Radiooper „Mord“ des Schönberg-Schülers Walter Gronostay aus dem Jahr 1929 berichtete Camilla Bork von der FU Berlin. „Mord“, von dem eine Partitur, aber kein Mitschnitt überliefert ist, habe die technischen Möglichkeiten der Mikrofontechnik des Rundfunks genial genutzt um Raumklang darzustellen. Auf der Suche nach Erweiterung des Repertoires entstand die Händel-Renaissance der 20-er Jahre. Adele Jakumeit aus Göttingen berichtet, man habe Händels Oratorien immer schon als Kirchenmusik gepflegt, nun aber wieder seine Opern aufgegriffen und in deutscher Übersetzung stark gekürzt mit modern-abstrakten Bühnenbildern zur Aufführung gebracht. Durchbruch war 1920 mit „Rodelinde“ in einer eigens als „Händel-Festspiele Göttingen“ firmierenden Produktion. Eine große Rolle spielte der Choreograph Kurt Joos, später Lehrer von Pina Bausch, und Intendant Oskar Hagen, der die Opern mit einer von Ausdruckstanz abgeleiteten Gestik und Ästhetik in deutscher Übersetzung aufführte. Eine große Rolle spielte der Dirigent Georg Göhler, der schon vorher „Alcina“ konzertant in der Originalsprache aufgeführt hatte und auch wichtige Beiträge zur Verdi-Renaissance leistete, indem er Verdi-Opern ins Deutsche übersetzte. Er hatte auch Anteil an der Wiederentdeckung von Franchetti, dem wir „Asrael“ verdanken.

Richard Erkens vom Deutschen Studienzentrum in Venedig stellte eine Liste der in Deutschland aufgeführten zeitgenössischen italienischen Opern vor. Nach dem Staatsvertrag zwischen Hitler und Mussolini 1936 veranstalteten viele Städte deutsch-italienische Kulturwochen, bei denen diese Opern aufgeführt wurden. Gerade die faschistischen Komponisten glorifizierten das kaiserliche Rom. Der Wegfall jüdischer Komponisten wurde auch durch Italiener kompensiert. 25 von 39 zeitgenössischen italienischen Komponisten wurden in Deutschland gespielt. Wolf-Ferrari und Busoni galten praktisch schon als deutsche Komponisten. Die Personale Dr. Georg Hartmann, geboren 1891, ab 1919 Intendant in Erfurt, 23-25 in Lübeck, 1925-29 in Dessau, 1930-33 in Breslau, 1933-1937 in Dortmund und schließlich in München wirft ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass die Opernschaffenden ihre Präferenzen an andere Spielorte mitnahmen.

Christopher Hailey, Princeton, ist der Autor der 1993 in Cambridge erschienenen Schreker-Biographie. Er widmete seinen Vortrag dem Gedenken an den am Ostersamstag verstorbenen Bonner Operndirektor Andreas K.W. Meyer. Er würdigte insbesondere Schrekers Berliner Werke. Nachdem „Die Gezeichneten“ (1911) noch ein Amalgam von Wagner und Richard Strauss gewesen seien, habe er mit „Irrelohe“ (1924) mit der Verarbeitung von Traumata aus dem ersten Weltkrieg seine eigene kraftvolle Sprache gefunden. „Der singende Teufel“ (1928) sei ein Rückblick auf die Grand Opèra des 19. Jahrhunderts, „Christophorus Columbus“ eine Zeitoper und „Der Schmied von Gent“ ein Volksmärchen im Stil einer Spieloper, wobei Schreker kein Freund von Etiketten war. Er kannte die Psychoanalyse, so verarbeitet er in „Columbus“ eine postnatale Depression. Im 1. und 2. und 3. Akt des „singenden Teufel“ findet Schreker eine sensationelle neue Musiksprache, um dann im 4. Akt wieder eher konventionell zu werden.

Arne Stolberg von der Humboldt-Universität Berlin berichtete anhand der Berichterstattung über die Comeback-Versuche Erich Wolfgang Korngolds nach dem Krieg über die Bedeutung von Kritikern und Verlegern, die hier ihren Einfluss geltend machten. Korngolds „Tote Stadt“ war 1920 der Sensationserfolg eines begnadeten Wunderkinds, der beim Publikum immer schon großen Anklang fand. 1933 als Jude in die USA emigriert und mit mehreren Oscars für seine Filmmusik ausgezeichnet, war sein Herzenswunsch, nach dem Krieg seine „Tote Stadt“ zum verdienten Erfolg zu führen. Korngolds Vater Julius Korngold war konservativer Wiener Theaterkritiker, der gegen die Avantgarde immer schon geschrieben hatte („ästhetische Terror-Clique“), und schrieb unter dem Pseudonym „Schott“ das Libretto. Die Oper wurde im Verlag Erich Schott verlegt. 1955 wurde „Die tote Stadt“ im Münchner Prinzregententheater aufgeführt, und die Staatsoper Berlin, Dresden und Graz interessierten sich für das Werk. Während die Zuschauer sich begeistert zeigten und lange applaudierten (es wurden Briefe Korngolds gezeigt, die das belegen), bügelte die Presse die Oper als „abgestandene Romantik“ und „schwelgerische Talmi-Musik“ ab. Die Oper wurde nach sieben Vorstellungen abgesetzt, die drei anderen Opernhäuser zogen ihre Anfragen wegen der schlechten Presse der Oper zurück, und Korngold war am Boden zerstört. Seine Bitte an den Verlag, zu dem er eigentlich einen guten Kontakt hatte, seinen Klavierauszug und die Partitur mit seinen Verbesserungen herauszubringen, wurde rundweg und ziemlich überheblich mit dem Argument, damit könne man kein Geld verdienen, abgelehnt. Man hatte Korngold abgeschrieben. Enttäuscht und gebrochen kehrte er in die USA zurück, wo er 1957 starb. Seine These war, dass der avantgardistische Flügel der Kritik sich gegen ihn und seine Musik verschworen habe, um ihm zu schaden und sich so an seinem Vater zu rächen. Der Erfolg der „Toten Stadt“ mit zahlreichen Produktionen setzte erst 1960 nach Korngolds Tod ein.

Am dritten Tag des Symposions konnte ich nicht teilnehmen, da ging es um einzelne Stücke, das Repertoire der Bayrischen Staatsoper vor und nach 1945, und um den „Neustart Bayreuth“ 1951, bei dem es Wieland und Wolfgang Wagner gelang, sich durch einen konsequenten Wechsel der Ästhetik, wie sie schon in den 20-er Jahren in der Kroll-Oper praktiziert worden war, von der Verstrickung mit dem Nationalsozialismus (Thomas Mann sprach von „Hitlers Hoftheater“) zu distanzieren.

Während das Kernrepertoire, das heißt, die Opern, mit denen man Publikum anziehen und Geld verdienen konnte, seit Beginn des 20. Jahrhunderts fast unverändert blieb, spielten sich die Verwerfungen und Diskontinuitäten bei der Avantgarde ab. Die in der NS-Zeit emigrierten jüdischen Komponisten wurden durch ambitionierte „arische“ zeitgenössische Komponisten ersetzt, und nach dem 2. Weltkrieg hatten sich die Vorlieben des Publikums nicht verändert. Nur die in der NS-Zeit äußerst beliebten deutschen Spielopern sind fast vollständig aus dem Repertoire verschwunden. Erst in diesem Jahrtausend greifen Intendanten verstärkt auf Opern von Komponisten wie Schreker, Zemlinsky, Braunfels, Resnicek, Franckenstein und Franchetti zurück, wogegen sich Alban Bergs „Wozzeck“ und „Lulu“, Kurt Weills „Dreigroschenoper“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, Hindemiths „Mathis der Maler“ und Korngolds „Die tote Stadt“ schon früher wieder durchsetzen konnten.

 

  • Artikel von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Theater Bonn / Focus 33
  • Titelfoto: Opernhaus Bonn / Foto © Thilo Beu
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