Zu den zahllosen Interpretationen von Schuberts „Zyklus schauerlicher Lieder“, wie er sein Werk selbst bezeichnete, kam am 23. März 2024 im Konzerthaus Dortmund eine beispiellose weitere Variante. Der junge britische Dirigent Nicholas Collon dirigierte das Aurora-Orchester, das den Sänger-Darsteller Allan Clayton nicht nur auf den Instrumenten begleitete, sondern auch buchstäblich Stellung nahm und im Rahmen einer Inszenierung der Reise mitwirkte. Die Musikerinnen und Musiker hatten das Programm bereits in London mit großem Erfolg aufgeführt.
Angekündigt war das Programm als „Performance“. Im Hintergrund stand eine etwa 2,50 m hohe und vier Meter breite weiße Projektionswand, auf der hin und wieder Liedtitel und Anfangszeilen, aber auch das Bild eines grünen Lindenbaums projiziert wurden. Rechts und links gab es Podeste mit mehreren Stufen, davor eine Windmaschine. Das kleine Sinfonieorchester mit viel Schlagwerk, alles ziemlich junge Musikerinnen und Musiker, nahm in der Mitte Platz.
Der Wanderer des Dichters Wilhelm Müller durch winterliche, aber auch innere, emotionale Welten, Liebesschmerz und Todessehnsucht, utopische Ideale unwirkliche Verbundenheit zur Natur legt einen Weg von außen nach innen zurück. Schuberts Musik schildert anschaulich die Zerrissenheit des Wanderers, der sich immer mehr von der Realität abkehrt, und Zender hat eine neue expressive Deutung mit den Farben des modernen Orchesters geschaffen.
Tenor Allan Clayton trat nicht im Frack auf, sondern in einem schwarzen Wintermantel mit schwarzer Hose und Sneakers, und zwar hinter der Projektionswand auf einem Podest stehend. „Gute Nacht“ war der Start in die kalte, fahle Nacht. Danach ging er zwischen die Orchestermusiker, auf verschiedene Podeste und legte sich bei „Rast“ auf seinen Mantel auf den Boden, begleitet von drei solistisch spielenden Streichern. Auch den „Frühlingstraum“, zuerst in Worten rezitiert, dann gesungen, träumte er dort, um dann seine Reise fortzusetzen. Die drei gelben Luftballons, die beim Lied „Die Post“, Einleitung des zweiten Teils, aufstiegen, stiegen noch höher bei den „Nebensonnen“, wo sie die Illusion auch optisch illustrierten. Clayton sang auf einem Podest sitzend „Fliegt der Schnee mir ins Gesicht …“, und über ihm holte ein Musiker plötzlich Schnee aus der Tasche holt und streute ihn auf ihn. „Die Nebensonnen“ deutete man als Fieberwahn, und „Der Leiermann“ war der nahende Tod.
Am Anfang saßen die Musiker in der üblichen Anordnung eng zusammen, aber während der Pausen zwischen den Liedern gingen sie auf verschiedene Positionen im Raum. Am Ende befanden sich alle auf Randplätzen auf den Podien, und der Sänger stand allein in der Mitte. Er suchte zum „Leiermann“ Schutz an der Wand, völlig entkräftet, und wurde mit Schnee bedeckt.
Es ist eine Art Mono-Oper, denn der lyrische Tenor singt nicht nur alle 24 Lieder, er gestaltet sie auch szenisch, indem er zum Beispiel ein Megafon nimmt, und seinen Schmerz herausschreit, oder ein Lied wie ein Pop-Star ins Mikrophon singt.
Clayton ist international bekannt für seine Vielseitigkeit und enorme Bühnenpräsenz. Einige zeitgenössische Komponisten haben eigens für ihn Liederzyklen geschrieben. Er sang unter anderem die Titelpartie bei der Uraufführung von Brett Deans´ „Hamlet“ in der Metropolitan Opera. In Deutschland hat Clayton überwiegend in Berlin mit Barrie Kosky arbeitet, zum Beispiel „David“ in Wagners „Meistersingern“. Seine Stimme ist auffallend schön timbriert, sehr farbenreich und äußerst dynamisch geführt. Mit seiner Mimik und Körpersprache unterstrich er die Aussage der Lieder.
Das Aurora Orchestra – alles junge Musiker – verbindet dank seines einzigartigen kreativen Ansatzes Konzerte auf Weltniveau mit einer innovativen Aufführungspraxis, indem die Musiker ganze Sinfonien auswendig spielen und sich im Raum bewegen. Aurora ist in London zu Hause und gastiert international.
Der britische Dirigent Nicholas Collon ist Gründer und Chefdirigent des Aurora Orchestra und gilt als innovativer Programmgestalter und hochkarätiger Interpret eines breiten Repertoires, der weltweit bei Spitzenorchestern gastiert, unter anderem steht ein Debut beim WDR-Sinfonieorchester auf dem Programm.
Die szenische und musikalische Interpretation durch diesen Ausnahmesänger und das junge, auch szenisch agierende Orchester war ein Erlebnis, das über einen Liederabend weit hinausging und von Anfang bis Ende fesselte. Es erzählte allerdings, bedingt durch die szenische Umsetzung, eine konkrete Geschichte, wodurch der ursprüngliche Charakter von Schuberts Liederzyklus und auch von Zenders Interpretation verändert wurde. Die doch recht spröde Instrumentierung Zenders mit verschiedensten Verfremdungen der ursprünglichen Lieder stand vollständig im Dienst des expressiven Ausdrucks, so dass auch Zuschauer, die mit moderner Musik normalerweise fremdeln, ergriffen waren. „Wir haben eine Sternstunde erlebt“, so eine Besucherin nach der Vorstellung.
Hans Zenders 1993 uraufgeführte „komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“ hat der „Winterreise“ eine neue Karriere als Konzertstück und als Ballettmusik eröffnet. Hier mein Bericht über die Aufnahme des Stücks für den WDR mit Daniel Behle im März 2019.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Konzerthaus Dortmund / Stückeseite
- Titelfoto: Konzerthaus Dortmund – Außenansicht © Daniel Sumesgutner