Die »Johannes-Passion« (Passio secundum Johannem, BWV 245), komponiert von Johann Sebastian Bach, wurde am Karfreitag, dem 7. April 1724 in der Leipziger Nikolaikirche uraufgeführt. Nachdem der Leipziger Rat am 22. April 1723 Bach zum Thomaskantor ernannt hatte war er für die Musikgestaltung in der Thomaskirche und in der Nikolaikirche zuständig. In der Aufführung, die ich am Gründonnerstag, dem 28. März 2024, in der Leipziger Thomaskirche besucht habe, wurde die Urfassung der Partitur anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der ersten Passion, die Bach während seiner Zeit in Leipzig komponierte, gespielt. Die zweiteilige Textvorlage erzählt die Passionsgeschichte: der erste Teil berichtet von Verrat und Gefangennahme Jesu sowie Petrus’ Verleugnung; der wesentlich längere zweite Teil erzählt über die Verurteilung Jesu durch Pontius Pilatus, der Kreuzigung und dem Tod sowie dem Begräbnis. (Rezension der Aufführung vom 28.03.2024)
Der Hauptgrund, weshalb ich dieses Oratorium für Das Opernmagazin rezensiere, ist die Mitwirkung des Countertenors Jakub Józef Orliński. Am 8. Juni 2023 habe ich über sein Konzert in der Ulrichskirche im Rahmen des Händel-Festspiele Halle berichtet. Außerdem habe ich ihn in der Titelrolle von Georg Friedrich Händels Tolomeo re d’Egitto am 11. Mai 2023 im NOSPR in Katowice gesehen, eine herausragende Aufführung in einem Veranstaltungsort mit einer der feinsten Akustik in einem modernen Konzertsaal.
Orlińskis Darbietung der beiden Alt-Arien in der »Johannes-Passion« („Von den Stricken meiner Sünden“ und „Es ist vollbracht“) zeichnete ihn bei dieser Vorstellung aus. Wie bei den anderen Aufführungen, die ich von ihm gehört habe, hat seine helle, emotional ausdrucksstarke und virtuose Countertenor-Stimme die Gesangslinie umschmeichelt und die häufig vorgetragenen Texte auf seine ganz eigene Weise zum Leben erweckt.
Der Tenor Daniel Johannsen, der die Arien sang und die Rezitative des Evangelisten vortrug, war sicherlich leidenschaftlich und dramatisch. Er übertrieb die Dramatik in der Geschichte des Evangelisten so sehr, dass sie eher nervig als emotional fesselnd war. Die anderen Solisten haben, soweit ich in der halligen Akustik der Thomaskirche einschätzen konnte, ihre jeweiligen Rollen professionell gesungen. Tomáš Král brachte die Bass-Arien auf eine warme, nachdenkliche Art hervor. Die Sopranistin Elisabeth Breuer sang mit Geschick und Glanz. Den beiden Sopran-Arien („Ich folge dir gleichfalls“ und „Zerfließe, mein Herze“) gestaltete Breuer mit kristallklare Koloraturen, die sich zu souveränen Höhen emporschwangen. Als Christus verlieh der Bass Benjamin Appl der Rolle eine polierte Anmut und eine beträchtliche Sanftheit.
Der Thomaskantor Andreas Reize leitete den Thomanerchor und das Gewandhausorchester bei einer ordentlichen, zügigen Lesung der Partitur, ohne die Klarheit der Musik oder der gesungenen Worte zu beeinträchtigen. Der Ansatz könnte als Mittelweg zwischen historisch informierter Aufführungspraxis und modernen Orchesterkräften beschrieben werden. Diese Art der Aufführung wird von Dirigenten wie Neville Marriner repräsentiert, dessen Aufnahmen, auch wenn sie keine starke Individualität aufweisen, den Vorteil haben, dass sie bei wiederholtem Hören überzeugen.
- Rezension von Dr. Daniel Floyd / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Gewandhausorchester Leipzig
- Titelfoto: Johannes-Passion/Nikolaikirche Leipzig/Foto: Eric Kemnitz
- Fotos der Vorstellung v. 27.03.2024