„Was willst du deines Ortes tun?“ – Bachs „Johannespassion“ zum 300. Jubiläum in Oxford

New College Choir Oxford/Foto: Nick Rutter

Am 7. April 2024 wird dieser Moment dreihundert Jahre alt und hat sich bis dahin unzählige Male wiederholt: die Geigen steigern sich, die Münder öffnen sich, es erschallt „Herr, Herr, Herr, unser Herrscher“. Bachs Passio secundum Joannem feiert dieses Jahr einen hohen Geburtstag und erfreut sich daher, aber sicher nicht einzig daher, besonderer Beliebtheit in der Konzertsaison. Allein in Oxford und Umland sind sechs Aufführungen geplant. In der leicht verschrobenen, steinalten Universitätsstadt ist das Werk in besten Händen – essayistische Nacherzählung einer Aufführung. (Besuchte Vorstellung v. 17.März 2024)

 

Wenn Gottes Sohn sich in der Kapelle des New College zum Sterben begibt, ist da nichts mit Sitzkomfort. Die Holzschnitzereien der Kapellenbänke drücken zwischen die Schulterblätter; die Sitze sind niedrig, die blanken Bänke schmal. Glaube ist nun einmal nichts Bequemes. Wer zehn Minuten vor Anpfiff nicht sitzt, dessen Platz wird weggegeben an einen Glücklichen in der Warteliste, mahnt die Kapellenverwaltung: meine Damen und Herren, wir sind überbucht und überrannt. Die Aufführung nennt sich liturgisch, will heißen: zwischen erstem und zweitem Teil gibt es Predigt statt Pause. Applaus ist nicht angebracht. Eine Möglichkeit, zwischendrin zu gehen, gibt es auch nicht, verkündet die Kapellenverwaltung. Klingt nach Festnahme, sagt eine Doktorandin. Oder nach Karfreitag 1724.

Unter den sechs Aufführungen der Johannespassion ist die des New College Choir unter der Leitung von Robert Quinney die Einzige, die sich angekündigt der modernen Konzerttradition verweigert. Quinney, erklärt das Programmheft, verschreibe sich unter anderem der historischen Rekonstruktion von Gottesdiensten unter der Verwendung der Musik von Johann Sebastian Bach. Ein Unterfangen, das ihm und dem seit sechshundert Jahren bestehenden Chor, der zu den besten der Welt zählt – sechzehn Buben, vierzehn Erwachsene, neuerdings auch eine Handvoll Frauen unter Letzteren – eine Warteschlange quer über den Innenhof von New College beschert.

Probenfoto / Foto: Nancy-Jane Rucker

Bei der Jagd auf einen (auch mit Karte nicht reservierten) Sitzplatz spielt die Architektur des Innenraumes allen einen Streich: sie schreibt eine Platzierung des Chores rechts und links in der Mitte der Kapelle vor, auf Bänken unmittelbar zwischen den Gemeindebänken, und diese wird aufgrund der liturgischen Aufführung auch hier berücksichtigt. Wo man auch sitzt, versperrt stets etwas den Weg: fremde Köpfe oder metallene Kerzenleuchter, die das Lichtermeer der Kapelle hochhalten. Das Orchester spielt unmittelbar zwischen dem Chor im breiten Mittelgang – bei der Sitzplatzsuche bitte nicht über Notenständer stolpern – wodurch alle selbst wählen dürfen, ob sie die Passion mit hervorgehobenen Holzbläsern und hohen Streichern zu hören wünschen oder mit Akzentuierung durch tiefe Streicher, Orgel und Cembalo. Einzig der Chor ist überall in gleicher Lautstärke zu hören. Sitzplätze mit philharmonisch ideal austariertem Klang sind hier höchstens relativ – wenn nicht unmöglich.

Vielleicht geht es in Robert Quinneys Dirigat aber ohnehin nicht um die Erschaffung des perfekten Mischklangs, dieses Elysiums der Akustikfanatiker, sondern um das unmittelbare Erleben des Jetzt – um Perspektiven, um die Deutung der Geschichte, je nachdem, aus welcher Ecke man sie hört. Es entpuppt sich als ratsam, sich hinter die tiefen Streicher zu setzen, dann tönt der Doppelbass in den Steigerungen wie ein rasender Herzschlag, das Cembalo wie der Schrittmacher des Stücks. Hinter Orgel, Cembalo und Streichern schlängeln sich Geigen- und Holzbläsermelodien umeinander, ihre Spieler unsichtbar. Im Eröffnungschor wird der „Herr“ durch die Stimmen gereicht; man hört ihr jeweiliges Alter. Die Jungen zarter im Anschlag als die herberen Erwachsenenstimmen, wie eine Glasur, die sich über alles zieht, ein Glanz sogar in Chören wie „Kreuzige!“, in denen nur das spitzige „Z“ durch den Schliff sticht und die Bedeutung des Wortes im inneren Auge erscheinen lässt. Die hohen Töne der jungen Stimmen schwellen nach den weichen Anschlägen an, stets genau vor dem Abbruch am vollsten, am durchdringendsten, und scheinen sich gerade deswegen der schieren Huldigung des Schönklangs zu verweigern. Dennoch kultiviert Quinney, wie bereits einige seiner Vorgänger, keinen körperlosen Schwebeklang, wie von manchen anderen hochrangigen britischen Knabenchören bevorzugt: das „Wohin?“ in „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ schallt ordentlich, das letzte „Herr, lass dein lieb’ Engelein“, noch in der Kapelle geprobt, während draußen bereits die Ersten vor geschlossener Tür Schlange standen, genauso volltönend, wie man von draußen durch die schwere Holztür erahnen konnte, ein Gebet mit beiden Füßen auf der Erde stehend, gesandt in die Höhe.

Die Solisten stellt der Chor fast ausschließlich selbst, inklusive der Partie des Jesus. Anders als nach moderner Art wird nicht eine Stimme für alle Arien dieser Stimmlage gewählt, sondern die Soli nach klanglich passendem Timbre und technischer Fähigkeit verteilt, wodurch beispielsweise Sopran- und Altarien unter vier Solisten aufgeteilt werden. Sebastian Hill, als Einziger von „extern“ engagiert für die fordernde Partie des Evangelisten, liefert einen Tenor wie halbweiches Metall in der guten Tradition britischer Evangelisten, lebendig in seinen Schilderungen, teils fast schon aggressiv. Das dialogisch Dramatische bändigt er mit langem Atem in einen spannungsgeladenen Bogen auf „weinete“ nach Petrus’ Verleugnung, fast eine kleine Arie für diese Partie, und beweist durchweg außerordentlich stimmliche sowie interpretatorische Reife – schließlich hat der junge Tenor schließlich erst selbst vor Kurzem seine Laufbahn an der abgeschlossen.

Daniel Tate singt Jesus mit dichtem, tiefem Bass, entschieden gegenüber Pilatus, hörbar die stärkere Figur, die vor der römischen Autorität erhobenen Hauptes um ihr Leben kämpft und dennoch bereits im Vorhinein weiß, dass sie verlieren wird. Je näher dem Tod, umso sanfter wird die Stimme – aber nicht, bevor sie einmal in „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ auftrumpfen darf mit scharf gefeilten und erfreulich farbenfrohen Koloraturen, mit Quinneys teils fordernden Tempi wohlvertraut. Pilatus (Raphaël Maurin) hingegen tönt luftiger, als Figur um Autorität bemüht, doch Zweifel und innere Unsicherheit sängerisch geschickt zum Ausdruck gebracht. Als dritter Bass im Bunde singt John Johnston den Petrus sowie die Arien „Betrachte, meine Seele“ sowie „Mein teurer Heiland“ mit Ruhe und hervorragendem Stimmfluss.

New College Choir Oxford/Foto: Nick Rutter

Die Altarien teilen sich Emily Fraser und William Purefoy – sie mit „Von den Stricken meiner Sünden“ klanglich ebenmäßig und todernst fast bist zur Blässe, er überragt mit meisterlich feiner Phrasierung im „Es ist vollbracht“, ein Stück, bei dem die Zeit stillsteht. Die Tenorarien steuert Edward Beswick bei mit einem stimmlichen Pendant zu Hills Evangelist: weicher, runder geschliffen, kontemplativer im „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“. Nur „Mein Herz, in dem die ganze Welt“ geht – anders als im Programm vermerkt – wieder an Hill statt an einen dritten Tenorsolisten. Die Antwort auf die letzte Frage „Mein Herz […] was willst du deines Ortes tun?“, von Hill in die Kapelle geworfen, steuert ein Junge bei, der die dreizehn nicht überschritten haben dürfte: Thomas Howarth im „Zerfließe, mein Herze“ mit einer Stimme wie eine Flöte, die die Zweiunddreißigstelnoten hochgleiten lässt und mit lang zu haltenden Spitzentönen spielt – eine Stimme mit Gestaltungswillen, der Quinney ruhig noch mehr Einladung dazu hätte lassen dürfen durch kleinere Modulierungen der Tempi. Ebenfalls sicher in den fälschlich einfach klingenden treppauf-treppab-Melodien des „Ich folge dir gleichfalls“: Alexander Remoundos. Deutsch ist schon trickreich, gerade in den Vokalen, sagt Thomas Howarth nach der Vorstellung, schiebt die Brille höher auf die Nase, zuckt ganz sportlich mit den Achseln: aber, na ja, wir kommen irgendwie durch. Nein, darf man sagen, mehr als das.

Der Frühjahrsabend raschelt, ist unruhig vor den Pforten des Colleges. Die Fahrradfahrer haben das Nachsehen; ihre Schimpfereien schluckt ein schlürfender Frontalwind. Zwischen den Füßen schnurrt die Fahrradkette, oben zischt der Kopf: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter!“, während man durch die bunten Lichter der Moderne fährt. In den wirren Kreisen der Menschheitsgeschichte wird nichts vor der Zeit gefeit als „ewiges Werk“ geboren. Es braucht immer wieder solche, die in den Staub greifen, um die Schönheit eines meisterlichen Werks vor Vergessen und Abschätzigkeit zu retten. Vor allen, die das über hunderte Jahre vollbrachten, gilt es sich zu verneigen – insbesondere vor Felix Mendelssohn-Bartholdy, dessen Begeisterung für Bachs große Werke sie auf ihren Weg der konzertanten Klassiker schickte nach Jahrzehnten, in denen man Bach naserümpfend als wenig mehr als einen musikalischen Mathematiker erachtete. Und so spielen die dreihundertjährigen Melodien weiter, während die Sonne untergeht und die Erde unweigerlich weiter ihren Kreis durch das All zieht. Statt Applaus drücken diverse Besucher bis zum Schluss reihum ihre Gefühle durch höflich-unterdrücktes, wässriges Schniefen aus. Der Erste heult bereits im Eröffnungschor. Ohnehin das größte Kompliment von allen.

 

  • Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Titelfoto: New College Choir Oxford/Foto: Nick Rutter

 

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