Es war eine sehr ungewöhnliche Performance von drei Darstellenden, von denen eine gehörlos ist. Man hat versucht, Musik wahrnehmbar zu machen, ohne sie zu hören zu lassen. Die Veranstaltung wurde im Rahmen von ORBIT – Festival für aktuelles Musiktheater von ON – Neue Musik Köln und der Oper Köln als Gastspiel im Staatenhaus 3, das für kleinere Formate und für die Kinderoper zur Verfügung steht, angeboten. Ziel der Aufführung war es, für Inklusion zu sensibilisieren. (Besuchte Vorstellung am 15.04.2024)
60 Minuten vor der Vorstellung hatten sich schon eine Handvoll Besucher und Besucherinnen, darunter zwei Rollstuhlfahrer, zur „Tastführung“ eingefunden. Creative Producer und Dramaturgin Jeanne Vogt erläuterte den Teilnehmenden, wie sie das für Menschen mit Sehbehinderung getan hätte, die Maße der Bühne und Elemente des Bühnenaufbaus: eine Trommel, eine rosa Plexiglaswand, einen mit Folie bespannten blauen Lautsprecher in etwa 2 Metern Höhe im Hintergrund, zwei unterschiedlich große Saunafächer mit metallen glänzendem Gewebe und ein Keyboard mit einem Notebook. Dazu ein weißer fast transparenter an einer Schiene beweglicher Vorhang, auf den man Übertitel projizieren konnte. Hätten Sehbehinderte teilgenommen, hätten sie die Gegenstände auch anfassen können.
Die Künstler*innen des Kollektivs [in]operabilities wenden sich mit ihrem Programm an hörende, spätertaubte und gehörlose Zuschauende und versprechen sich davon eine erweiterte und andere musikalische Kommunikation. Das Ensemble sucht nach Formen vielsinnlichen Musizierens und Sich-Begegnens und stellt sich ganz explizit die Frage nach der Zugänglichkeit der Oper. Für Sehbehinderte gibt es mittlerweile auch Audio-Deskriptionen.
In „A Singthing“ wurden drei Arien so präsentiert, dass Affekte visualisiert wurden durch Gebärden, fast schon Tanz, Lichtblitze, Wind und Vibrationen des Bodens unter den Stühlen. Dazu wurden die deutschen Übersetzungen auf die Plexiglaswand und auf den weißen Vorhang projiziert.
Bei „Nessun Dorma“, Lieblingsarie der in Honkong geborenen Percussionistin Sabrina Ma, lief bei mir im Geiste die Arie als Musik ab, damit konnte ich was anfangen. Sie visualisierte zunächst den Verlauf der Tonhöhe und Orchesterbegleitung mit ihren Händen – rauf, runter, langer Ton, kurzer Ton, und trommelte später zu der von ihr in Italienisch gesungenen Arie mit deutschen Übertiteln die Begleitung auf der Trommel, die in Lichteffekte „übersetzt“ wurde.
Bei der zweiten Arie, der Barockarie „Lasciate mi qui solo“ von Francesca Caccini, die von Leo Hoffmann und Athena Lange umgesetzt wurde, hatte ich Mühe, mir über den projizierten Text hinaus irgendetwas vorzustellen. Der melancholische Duktus der Arie war allerdings sehr gut nachempfunden, ich habe sie mir später auf Spotify angehört und mir zu dem Gesehenen den Sound gespielt. Ich wusste allerdings, wie solche Arien des Frühbarock klingen und konnte mir aus dem Text „Lasst mich Einsame sterben“ mit vier Strophen die Arie einigermaßen vorstellen. Die Visualisierung arbeitete mit gesprühtem Dampf und gemessenen Bewegungen von Athena Lange im blauen Samtkleid und Leo Hoffmann, der Netzstrümpfe und einen Minirock mit Fransen zu Schnürstiefeln trug. Ich fand es gut, dass man eine Komponistin berücksichtigt hat, und es hat mir auch gefallen, dass das Kostüm Leo Hoffmanns ziemlich weiblich wirkte.
Die Darstellung einer in den 60-er Jahren aufgeführten Arie von Maria Callas, die ja eine besonders expressive Körpersprache hatte, durch die gehörlose Schauspielerin Athena Lange hat mich stark beeindruckt, obwohl ich die Arie vom deutschen Text her nicht kannte. Die Video-Aufzeichnung mit Maria Callas wurde ohne Ton abgespielt. Es war auf jeden Fall ein hochemotionales und tieftrauriges Thema. Athena Lange hat am Schluss auch einige durchaus reine Töne gesungen. „Die Musik ist in ihr,“ kommentierte Regisseur Benjamin van Bebber später.
Im Nachgespräch mit rund 30 Teilnehmenden, das von Stefan Steinmetz, Chefdramaturg der Oper Köln, moderiert wurde, stellten die Percussionistin Sabrina Ma, die gehörlose Schauspielerin Athena Lange, und Leo Hofmann, der aus der Komposition kommt, dar, wie sie die Arien auf ihre Darstellbarkeit befragt hatten. Alle drei sind keine ausgebildeten Sänger, aber sie haben sich mit der Form der Arie auseinandergesetzt und überlegt, wie man die Emotionen, die sie transportiert, anders als durch Gesang darstellen kann. Das Gespräch wurde von Christina Müller in Gebärdensprache übersetzt.
Zielgruppe der Performance ist sehendes Publikum, es gibt aber eine Audiodeskription für nicht sehendes Publikum. Die Projektgruppe [in]operabilities hat eine dreijährige Konzeptionsförderung vom Bund und von der Stadt Hamburg bekommen und hofft, dass sie 2025 eine Anschlussförderung erhält.
[in]operabilities ist ein künstlerisches Forschungsprojekt im zeitgenössischen Musiktheater, bei dem die einzelnen Beteiligten jeweils mehrere Aufgaben erfüllen, auch wenn sie für einige nicht ausgebildet wurden.
Die Mitglieder der Gruppe sind stolz darauf, „A Singthing“, das Benjamin van Bebber und Leo Hoffmann in Berlin und für Kampnagel in Hamburg konzipiert haben, erstmals in einem Opernhaus aufzuführen. [in]operabilities ist mit Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderungen vernetzt. Natürlich gibt es den Wunsch, dass die Förderung weiter geht und es ermöglicht, die Projekte fortzusetzen, zum Beispiel durch die Produktion einer kompletten Oper.
Eine spontane Umfrage bei den etwa 30 Teilnehmenden am Nachgespräch ergab, dass nur fünf regelmäßig in die Oper gehen, die anderen waren gekommen, weil sie sich für das Thema „Inklusion“ interessieren. Andere wiederum fanden die Verknüpfung besonders interessant und wollten mehr darüber erfahren.
Ich selbst bin gekommen, weil ich Opernliebhaberin bin. Gerade die Vorstellung „Ein Maskenball“, die ich einen Tag vorher in der Kölner Oper erlebt hatte, ist exemplarisch dafür, dass Oper eine Kunstform ist, die man per se vielsinnlich erlebt. Es gibt nicht nur den Gesang, es gibt die Handlung, das große Opernorchester, die aufwändigen Masken und Kostüme, die Mimik und Körpersprache der Sängerinnen und Sänger und den Tanz. Eine meiner Freundinnen ist im Alter von fünf Jahren praktisch ertaubt und erkennt Sprache, indem sie von den Lippen abliest. Sie ist ein großer Opern- und Konzertfan und legt großen Wert darauf, in den ersten Reihen zu sitzen, weil dort die Mimik der Darstellenden und der Schall von ihr besser wahrgenommen werden können.
Mehr dazu: https://orbit.cologne/
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Titelfoto: Oper Köln/A SINGTHING/ Foto: Sophia Hegewald