Die Bearbeitung der „Winterreise“ von Hans Zender aus dem Jahr 1993 hat dem Liederzyklus Schuberts eine neue Karriere als Konzertstück und als Ballettmusik eröffnet. Dadurch erleben viele Zuschauer, die nie einen Liederabend besucht hätten, diese Komposition.
„Mit seiner „komponierten Interpretation“ von Schuberts „Winterreise“ hat der Komponist und Dirigent Hans Zender 1993 weit mehr vorgelegt als eine Orchesterfassung des monumentalen Liederzyklus. Zenders Version bringt die im Werk verborgenen inneren Stimmen ans Licht und macht Schuberts kühnen Vorgriff auf die musikalische Zukunft hörbar. Unter Leitung des amerikanischen Avantgarde-Spezialisten Brad Lubman ist der für seine stilistische Vielseitigkeit gerühmte Tenor Daniel Behle zu erleben.“
So kündigt der WDR seine Aufführung der „Winterreise“ von Franz Schubert am 8. März 2019 um 20.00 Uhr im Funkhaus Wallraffplatz an, die vom WDR 3 von 20.04 – 22.00 Uhr live übertragen wurde. Sie ist auf dem WDR3-Konzertplayer bis zum 8.4.2019 nachzuhören: http://konzertplayer.wdr3.de/klassische-musik/konzert/live-wdr-sinfonieorchester-winterreise/.
Es beginnt mit Schrittgeräuschen, aus denen sich langsam das Thema der Begleitung entwickelt, das von einer Flöte und Streichinstrumenten gespielt wird, zu denen sich Blasinstrumente gesellen. Das bekannte Vorspiel wird von hohen Streichern übernommen. Der Einsatz Behles mitten im Takt wird zunächst nur von Streichern, dann aber mit Blasinstrumenten begleitet. Dazu kommen Effekte des Schlagzeugs, plötzlich setzt die Melodie aus und Behle spricht mit Mikrofonverstärkung „von einem zu dem andern, die Liebe liebt das Wandern…“ um dann mit normaler Singstimme „Feinliebchen gute Nacht“ fortzuführen.
Es ist „Die Winterreise“, die Gesangslinie ist ergänzt um Vorspiele, Nachspiele, vor allem aber um farbige instrumentale Effekte, die zum Teil Geräusche imitieren, wie zum Beispiel mit drei Windmaschinen in „Mut“. Hier setzt der Sänger dreimal an. Dann gibt es Stellen, in denen der Text gedehnt wird oder die Instrumentierung weit über die Klavierlinien der ursprünglichen Begleitung hinaus illustriert.
Der Komponist und Dirigent Hans Zender, 1936 in Wiesbaden geboren, hat als Dirigent auch mit Musik der Zeit eine Weltkarriere gemacht und als Komponist zunächst Zwölftonmusik komponiert, dann aber die Aufteilung der Oktav in 72 Kleinst-Intervalle propagiert. Die Gattung „komponierte Interpretation“ hat Zender geradezu erfunden: die instrumental-gedankliche Umwandlung und Neudeutung bedeutender Musik der Vergangenheit. Sein Ziel ist dabei, auf die einst beunruhigende Wirkung des Originals hinzuweisen, indem er die Musik weiter denkt und Konturen schärft, Formen dekonstruiert oder neu schafft. Er möchte damit der Gefahr begegnen, dass große Musik im heutigen Musikbetrieb verharmlost und zum Genussmittel degradiert wird.
Zenders „komponierte Interpretation“ geht weit über die Abbildung der Klavierbegleitung in Schuberts Original hinaus, denn er verwendet die Instrumente eines Sinfonieorchesters, setzt allerdings nur zwei Geigen, zwei Bratschen, ein Cello und einen Kontrabass ein. Dazu vier Schlagzeuger und je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte und ein Saxophon, ein Horn, eine Trompete und eine Posaune, eine Harfe und ein Akkordeon und eine Gitarre, mit denen er ungeheuer schillernde Farben erzielt. Er komponiert Takte, zum Beispiel die Einleitung, dazu. Er setzt die Stimme phasenweise als Sprechstimme ein und ergänzt Effekte, die nur ein gutes Sinfonieorchester umsetzen kann. Außerdem dehnt er Passagen („Die Post“) und verstärkt die Stimme phasenweise mit Mikrophon.
Die Bedeutung der „Winterreise“ kann nicht unterschätzt werden, denn der 31-jährige Schubert setzt in den „24 Stationen der Verzweiflung“ kompositorische Mittel ein, die über die Zeit hinaus weisen. Dies versucht Zender deutlich zu machen. In den ersten zwölf Liedern geht es um eine verlorene Liebe und die Einsamkeit des Ausgegrenzten in der winterlichen Landschaft, die zweite Hälfte des Liederzyklus ist dagegen die Auseinandersetzung mit dem nahen Tod.
Daniel Behle, Bayreuth-erfahrener lyrischer Tenor und selbst Komponist, der eine Fassung der „Winterreise“ mit Klaviertrio arrangiert und eingespielt hat, kann als ausgewiesener Experte für Liedgesang gelten. Seine Interpretation wirkt absolut natürlich, ohne Manierismen, und die Sprechstimme fügt sich nahtlos an die Gesangslinie an. Seine Gestaltung ist perfekt, zur absoluten Textverständlichkeit kommen erlesene Melodiebögen und dramatisch gesteigerte Ausbrüche.
Das WDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Brad Lubman setzt die filigrane Instrumentierung perfekt um und deckt die Gesangslinie nie zu. Die Melodie wandert häufig von einer Instrumentengruppe zur anderen. Die Begleitung zu „Das Wirtshaus“ klingt wie eine Blaskapelle bei einer Beerdigung. Der Dirigent und Komponist Brad Lubman, bekannt als Experte für Neue Musik, akzentuiert die Rhythmen sehr präzise.
Das live-Erlebnis ist durch nichts zu ersetzen, schon, weil man erkennen kann, wie die Lauteffekte (beim Schlagzeug gab es zwei dicke hängende Bretter (C und A), ein Xylophon und eine hängende Bronzeplatte) erzeugt werden. Aber auch die Aufzeichnung als Live-Stream im Radio und 30 Tage lang im Konzertplayer ist spannend.
Für einen Kenner der ursprünglichen Fassung eröffnen sich Welten, als hätte man einen Schwarz-weiß-Film plötzlich in Farbe umgesetzt. Wer die „Winterreise“ noch nicht kannte erlebt spannende Musik. „Zender hält sich weitgehend an den originalen Notentext. Es gibt eingebaute Irritationen, die aber die Interpretation nicht grundsätzlich verändern. Einiges wird schärfer und plastischer, grausamer oder süßer“, so Daniel Behle im Programmheft.
Die Kritiker-Runde aus vier Experten der Deutschen Schallplattenkritik (Stefan Mösch, Wolfgang Schreiber, Michael Stegemann und als Moderatorin Eleonore Bünning) stellte im Vorfeld ihre bevorzugten Einspielungen der „Winterreise“ vor. Bei 519 belegten Einspielungen bis 2011, die älteste von 1913, wurde auch der Wandel in der Interpretationspraxis der „Winterreise“ deutlich gemacht.
Heute noch faszinierend sind die Aufnahmen mit Hans Hotter und Michael Raucheisen (Klavier) aus dem Jahr 1942 und Peter Anders mit Michael Raucheisen 1945, wo Sänger mit Jahrhundertstimmen (Hotter hat schon mit 27 den „Wotan“ gesungen und klingt auch als Liedsänger wie Wotan, Anders stand kurz vor einer Weltkariere als Tenor) mit großer Gestaltungskraft und opernhaften Mitteln arbeiteten.
An Dietrich-Fischer-Dieskau kommt niemand vorbei. Von ihm sind allein 16 verschiedene Einspielungen auf „spotify“ verfügbar. Dabei wird die Aufnahme des 27-jährigen aus dem Jahr 1952 mit Hermann Reuter besonders positiv hervorgehoben. Er ist der erste, der die Metrik des Klaviers zu Grunde legt, die Stimme wird wie ein Instrument behandelt. Dem späten Fischer-Dieskau wirft man heute gewisse Manierismen vor.
Die von zwei der vier Kritiker favorisierte Aufnahme ist die von Christoph Prégardien mit Andreas Staier an einem Hammerklavier von 1827 aus dem Jahr 1997 in historischer Aufführungspraxis.
„Zender hat mit dieser ‚Winterreise‘ mehr verdient als mit all seinen anderen Kompositionen zusammen. Sie wird gerne gespielt, und es gibt schon zahlreiche Ballette auf diese Musik“, sagt Stefan Mösch, der in der Kritikerdiskussion über Einspielungen von Bearbeitungen der „Winterreise“ auf CD referierte. Sie fordere zum Tanz heraus, zuletzt gab es eine Ballettversion in Münster, Premiere am 17.1.2019, vorher in München, Darmstadt und Zürich.
Der WDR als öffentlich-rechtlicher Sender, der in seinem Rundfunkprogramm auch der Pflege neuer Musik verpflichtet ist, kommt an Zenders´ komponierter Interpretation nicht vorbei. Im Vergleich zur ursprünglichen Fassung hat sich die musikalische Substanz nicht wesentlich verändert, aber es kommen durch die reiche Instrumentierung unerhörte Farben dazu. „Die Nähe zum Original durchläuft in Zenders Fassung mehrere Stadien. Rückt er manche Passagen ganz dicht an einen ‚authentischen‘ Ton heran brechen andere Stellen völlig aus. Zum Schluss wird die Ordnung zunehmend labiler. In den ‚Nebensonnen‘ laufen drei Temposchichten nebeneinander her und vernebeln die Sinne. Die Drehfigur im ‚Leiermann‘, – bei Schubert ganz gleichmäßig – ist metrisch instabil grotesk-hektisch oder traurig-stupid. Die Tonarten verrutschen ‚auf dem Eise‘ und lösen sich in einem vagen Klangfeld auf. Dem Wanderer bleibt nur sein Traum“, so Kerstin Schüssler-Bach im Programmheft.
Die Frage, ob Schubert zu viel Zender zugefügt wurde ist akademisch. Das muss jeder selbst entscheiden. Mir hat das Konzert ganz neue Einblicke in das Werk gegeben, und ich bin überzeugt, dass mit dieser Komposition, die das Format des Liederabends sprengt, neue Zielgruppen erreicht werden können. Wer das im Radio hört wird neugierig auf das Original, wer das getanzt sieht, besorgt sich vielleicht sogar die Noten und versucht, es mit Klavierbegleitung nachzusingen.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer
- Titelfoto: Daniel Behle