Mit großem Jubel für die Sängerinnen und Sänger und das hervorragend aufgestellte Beethoven-Orchester unter Dirk Kaftan endete am 10. März 2019 die Premiere der „Elektra“ von Richard Strauss.(Rezension der besuchten Premiere vom 10.3.2019)
Die Titelpartie ist die wohl anspruchsvollste Sopranpartie der gesamten Opernliteratur. Auf Referenzaufnahmen singen die Rolle gestandene „Brünnhilden“ wie Birgit Nilsson, Hildegard Behrens oder Deborah Polaski. Intendant Bernd Helmich und Operndirektor Andreas K. Meyer haben gewagt und gewonnen: sie gaben der Sopranistin Aile Asszonyi, die im vergangenen Jahr mit sehr großem Erfolg die Partie der Prothoe, Penthesilies Schwester in „Penthesilea“ von Otmar Schoeck, gestaltete, die Chance, die Rolle der „Elektra“ mit Julia Strelchenko, Igor Horvath und Miho Mach als Korrepetitoren und Dirk Kaftan als Dirigent in Bonn zu erarbeiten. Selten hat man am Schluss einer Premiere eine Hauptdarstellerin gesehen, die sich so unbändig und reinen Herzens freut, nachdem sie fast zwei Stunden lang ein von Rachedurst zerfressenes Monster verkörpert hat.
Das Bühnenbild (Etienne Pluss) zeigt den Treppenaufgang in die Beletage eines großbürgerlichen Hauses aus der Entstehungszeit der Oper mit einer Art Balkon auf halber Höhe. Im Erdgeschoss befindet sich rechts ein großer Müllhaufen, der die halbe Bühne einnimmt: Altlasten aus der Vergangenheit?
Die Mägde, Elektras Bewacherinnen, exquisit gestaltet von den Ensemblemitgliedern Charlotte Quadt, Susanne Blattert, Anjara Bartz, Rose Weissgerber und Louise Kemény, unterhalten sich über Elektra, die Tochter der Hausherrin Klytämnestra, die von ihrer Mutter wie ein Tier gehalten wird.
Elektra beklagt täglich ihren ermordeten Vater Agamemnon und erzählt, die Mutter habe zusammen mit ihrem Geliebten Ägisth den Vater im Bad mit dem Beil erschlagen. Sie ist von dem Gedanken besessen, diesen Mord an ihrem Vater Agamemnon, dem Mann ihres Lebens, zu rächen. Der ist in Form des Agamemnon – Motivs allgegenwärtig. Aile Asszonyi überzeugt nicht nur durch ihre stimmliche Präsenz, ihr hochdramatischer Sopran ist unverbraucht und auch in den Extremlagen voll und stimmschön. Sie kann sich gegen das große Orchester scheinbar mühelos durchsetzen. Ihre Bühnenpräsenz ist enorm, ihre schauspielerische Leistung als psychisch gestörte, nur auf den Rachegedanken fixierte hochintelligente Frau steht der Gesangsleistung nicht nach.
Ihre Schwester Chrysothemis, mit jugendlich-frischem Schmelz dargestellt von Manuela Uhl, ist das, was Elektra sein könnte, wenn sie nicht von ihren Rachephantasien besessen wäre: eine privilegierte attraktive Königstochter, aber gekettet an ihre pathologische Schwester. Sie möchte die Vergangenheit ruhen lassen, sie will „ein Weiberschicksal“. Manuela Uhl, in Bonn schon 2014 als Mirza in „Der Traum ein Leben“ und 2015 als Salome bekannt, kann als Richard-Strauss-Expertin gelten und hat die Partie der Chrysothemis schon in Dresden, Buenos Aires und an der Deutschen Oper Berlin gesungen.
Klytämnestra, die Mezzosopranistin Nicole Piccolomini, tritt im goldglitzernden Kleid souverän auf als Königin. Hinter der glamourösen Fassade tun sich Abgründe der Verdorbenheit und Verstörtheit auf. Ihre dunkel timbrierte Mezzostimme kann das Grauen ihrer Alpträume perfekt vermitteln. Die zentrale Szene des Gesprächs der Königin mit Elektra macht deutlich, dass diese beiden Frauen durch den Mord an Orest untrennbar miteinander verstrickt sind, Klytämnestra als Täterin und Elektra als Rächerin des Opfers. Es gibt nur eine Erlösung aus Klytämnestras Alpträumen, ihren Tod.
Die drei erstaunlich jungen Sängerinnen schlagen zusammen mit dem Orchester das Publikum vom ersten Takt an in den Bann. Aile Asszonyis hochdramatischer Sopran mit vergleichsweise dunklem Timbre, Manuela Uhls silbrig-klarer Sopran und Nicole Piccolominis Mezzosopran, fast Alt, sind gut unterscheidbar und ergänzen sich perfekt. Erst im letzten Drittel des Einakters treten die männlichen Darsteller auf.
Ensemblemitglied Martin Tzonev als Orest gestaltet den versehrten und traumatisierten Rächer seines Vaters, der mit Hilfe seines Pflegers die Blutrache vollzieht, ergreifend. Er lässt zunächst die Nachricht verbreiten er sei tot. In dieser Situation will Elektra die Mutter und den Stiefvater mit Hilfe von Chrysothemis beseitigen, die Schwester verweigert aber ihre Unterstützung. Ein Unbekannter kommt in das Haus und trifft Elektra an – es ist Orest, der seinen Vater Agamemnon rächen will. Die Erkennungsszene Elektra – Orest ist ein Höhepunkt der Dramatik. In dieser Szene erkennt Elektra, dass sie dem Rachegedanken ihre Schönheit und ihre Jugend geopfert hat. Die Tragik der Verstrickungen dieser Familie wird hier besonders fassbar. Das Beethoven-Orchester unter Dirk Kaftan blüht in der Erkennungsszene zu wundervoller Walzerseligkeit auf.
Ägisth, von Johannes Mertes als eitler Geck mit markantem Heldentenor dargestellt, wird von Elektra in den Tod geschickt. Er hat vor zehn Jahren in der „Elektra“ –Inszenierung von Klaus Weise als Ensemblemitglied den jungen Diener dargestellt, der diesmal vom jungen Tenor David Fischer souverän verkörpert wird. Das Volk jubelt, die Anhänger Orests, der Chor aus dem Off, überwältigen die Anhänger Ägisths, Elektra stirbt in einem ekstatischen Tanz.
Die Ordnung ist wieder hergestellt, Orest ist Agamemnons rechtmäßiger Erbe, der die Herrschaft in Mykene übernimmt. Wir werden also Zeugen eines terroristischen Anschlags, der in einen Staatsstreich zu Gunsten der legitimen Herrscher mündet. Die verstörte Chrysothemis und der traumatisierte Orest treten auf den Balkon.
Die Mägde, am Anfang in chicen weinroten Lederröcken mit blaugrauen Blusen (Kostüme: Bianca Deigner) wechseln, passend zur neuen Herrschaft, die Uniformen und streifen sich graublaue Overalls über. Sie werfen sogleich die Altlasten der Ära Ägisth/Klytämnestra auf den Müllhaufen und praktizieren damit die „damnatio memoriae“, die „Tilgung der Erinnerung“, wie im alten Rom.
Ein besonderes Lob verdienen die Kostüme von Bianca Deigner. Sie bilden genau die soziale Stellung der Protagonisten ab, zum Beispiel Elektra im giftgelben Kleid mit ins Blaugraue gehendem Farbverlauf nach unten, die Agamemnons Militärmantel überstreift, um ihm näher zu sein, oder Chrysothemis im rosa Tüllrock mit lila Jacke und lila Stiefelchen als Königstochter.
Die Orestie wird als bekannt vorausgesetzt. Hofmannsthal und Strauss haben die Psyche Elektras und Klytämnestras tiefenpsychologisch gedeutet. Die musikalische Umsetzung geht bis in das tiefste Unterbewusstsein und verdeutlicht die Traumatisierung Elektras stellvertretend für das Opfer und Klytämnestras als Täterin mit gewaltigen Klangclustern und zum Teil dissonanten Akkorden. Das Beethoven-Orchester, dirigiert von Dirk Kaftan wird, mit 117 Musikern besetzt, zum überwältigenden Klangkörper, der die Feinheiten der Musik voll auslotet. Die Musik ist so suggestiv, dass man wie im Schock erst am Schluss erkennt, was da vorgegangen ist. Kaftan gelingt es aber dennoch, die Stimmen der Sänger nicht zu übertönen und die Walzerseligkeit eines Richard Strauss voll auszuspielen.
Die Inszenierung von Enrico Lübbe mit seinem Dramaturgen Torsten Buss, Bühnenbild Etienne Pluss und Kostüme Bianca Deigner liefert dazu ganz großes Theater.
Schon die Rachevision Elektras, die sie in ihrem großen Auftritt zu Beginn der Oper schildert, wird opulent bebildert mit sieben Doubles des jungen Orest, die mit Äxten ein Double der Klytämnestra erschlagen. Das beobachten entsprechende Elektra-Doubles. Dadurch wird auch dem uninformierten Zuschauer sofort klar, was Elektras Ziel ist und wovor Klytämnestra sich fürchtet, was ihr ihre Alpträume bereitet.
Das Regieteam verlässt sich in der realen Mordszene am Ende zum Glück voll auf die Musik: es ist kein einziger Tropfen Blut zu sehen, und trotzdem fasst den Zuschauer das Grauen, wenn die Todeskämpfe der Opfer mit ruppigen Tiraden der tiefen Streicher ausgedrückt werden oder wenn Elektra ihren Bruder anfeuert, noch einmal zuzuschlagen. Die Verwendung eines Stricks durch den Pfleger Orests (Egbert Herold), der Klytämnestra und Ägisth stranguliert, hat eine überlegte dramatische Funktion: Orest ist als einarmiger Kriegsversehrter zu dieser Tat nicht in der Lage, ist also insofern exkulpiert. Der Pfleger wirft beim Hinausgehen nonchalant das Mordwerkzeug auf den großen Müllhaufen.
Die Umsetzung der Schlussszene ist für viele Zuschauer verstörend, denn Elektra wird von Müllsäcken, Altlasten der Vergangenheit, die von den Mägden herunter getragen und geworfen werden, zugeschüttet und versinkt im Müll. Die Kissenschlacht mit Müllsäcken zum ekstatischen Tanz Elektras ist vielleicht zu banal, viele Zuschauer waren davon irritiert, aber in der wilden Bewegung passt sie durchaus zur Musik.
Die Inszenierung will darauf hinaus, dass zwischen der Vision der Rache und der Durchführung Welten liegen. Während die Vision idealisiert wird ist die Durchführung ernüchternd und endet im eigenen Untergang.
- Rezension der besuchten Premiere von Ursula Hartlapp-Lindemeyer
- Weitere Termine, Infos und Kartenvorverkauf unter DIESEM LINK
- Portrait der Elektra-Darstellerin Aile Asszonyi
- Titelfoto: Theater Bonn: ELEKTRA/ Aile Asszonyi/Foto @ Thilo Beu (Besonderen Dank an Thilo Beu ‚(nicht nur-)‘ für diese aussagekräftigen und starken Fotos der Inszenierung!-Detlef Obens-DAS OPERNMAGAZIN)
Ein Gedanke zu „Sensationelles Rollendebut von Aile Asszonyi in der Titelpartie der Bonner „Elektra““