Für die Berliner Philharmoniker liegt Frankfurt am Main auf halbem Wege nach Fernost. Denn am Vorabend ihres Abflugs zu einer großen Konzerttournee gaben sie unter der Leitung ihres Chefdirigenten Kirill Petrenko ein exklusives Gastspiel in der Alten Oper. Dies wird Petrenkos erste Asienreise mit seinem Spitzenorchester werden, eine ursprünglich für das Jahr 2022 geplante Residenz in Shanghai musste pandemiebedingt verschoben werden. Mit Brahms, Strauss, Mozart, Berg und Reger wird das Orchester sein Kernrepertoire bedeutender Komponisten aus dem deutschsprachigen Raum darbieten. In bester Disposition antizipierten die Berliner Philharmoniker in Frankfurt schon einen überragenden musikalischen Erfolg für die anstehenden Konzerte in Japan und Südkorea. Auf dem Programm standen die „Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart“, op. 132 von Max Reger sowie Richard Strauss. (Rezension des Konzerts vom 7.11.2023)
Der Dirigent Kirill Petrenko steht durch seine Vergangenheit bei der Meininger Hofkapelle eng in der Tradition des Komponisten Max Reger, welcher knapp 90 Jahre vor ihm in Meiningen wirkte. Die Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart, op. 132 sind das einzige sich bis heute im Kanon der Orchestermusik etablierte Werk Regers. Es zeigt den Komponisten in seiner Spätphase auf der Höhe seiner Variations- und Orchestertechnik. Kurios, dass ausgerechnet diese Komposition allweil als Beleg für eine vermeintlich mutige Programmgestaltung Petrenkos herhalten muss. Der Dirigent, so das Programmheft, zeige damit sein Faible für „abseitiges und wenig bekanntes Repertoire“.
Auch wenn man über die Popularität sicherlich streiten kann, dienten in diesem Konzert Regers Mozart-Variationen als Bravourstück sondergleichen für das aufführende Orchester. Petrenko demonstrierte in ätherisch-luftiger Interpretation die Einzigartigkeit seiner Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern. Dessen Musiker*innen inspirierte er zu kammermusikalischer Höchstleistungen. In den acht, jeweils nur wenigen Minuten dauernden, Variationen betonte der Dirigent den individuellen Charakter mit bewusst gesetzten Akzenten und stufte jede Stimmfarbe in den Instrumentengruppen sorgsam ab. Den großen Rahmen über sämtliche Variationen setzte er durch einen stetig fühlbaren, leicht drängenden Puls. Besonders eindrücklich geriet die Variation Nr. 7, das „Andante grazioso“, welches seiner Bezeichnung gerecht werdend, von Petrenko raffiniert mit Anmut und Grazie ausgefüllt wurde. Die Berliner Philharmoniker bestachen – auch geprägt durch die kultivierte Artikulation des Solo-Oboisten Albrecht Mayer – durch ein herrlich elegantes Klangbild. Nur ein Spitzenorchester wie dieses vermag das äußerst leise Piano-pianissimo „ppp“ der sich anschließenden Fuge derart zart, rein und ausgeglichen zu spielen, dass es „ohne alle Erdenschwere“ klang – gerade so wie vom Komponisten Max Reger intendiert.
Heroes lautet der Themenschwerpunkt der diesjährigen Saison der Berliner Philharmoniker. So ist es nur folgerichtig, dass Richard Strauss Tondichtung Ein Heldenleben, op. 40 bei den Osterfestspielen in Baden-Baden, zur Spielzeiteröffnung in der heimischen Philharmonie, bei einer sommerlichen Festival-Tour und schließlich auch in Asien erklingen wird. Petrenko präsentierte eine musikalische Interpretation, die bis auf das letzte Detail ausgeschliffen, gefeilt und hörbar intensiv geprobt wurde. Seine stets straffen Tempi und bewusst gesetzte Effekte, eine absolut strenge Geschlossenheit und nie erahnte Devotion im musikalischen Spiel, ließ sogleich aufhorchen. Der Dirigent überließ nichts dem Zufall und schichtete die Klangmassen souverän aufeinander, so dass selbst das von Blechbläsern dominierte Tutti stets schlank und durchhörbar klang. Das Publikum erstarrte vor Staunen, mit welcher Akribie der Dirigent das Orchester über die einzelnen Szenen der Tondichtung hinwegschweben ließ und dabei Daishin Kashimoto in einem ausdrucksstarken Solo an der Violine einzubetten vermochte.
Wer ist dieser Held aus Strauss‘ Tondichtung? Petrenko schien diese Fragestellung nicht weiter zu beschäftigen und verkannte so die Dramatik und zugrundeliegende Thematik des Heldenleben. Vielmehr noch schien der Dirigent die finale Harmonie „Des Helden Weltflucht und Vollendung“ schon im Eingangsthema zu antizipieren und vermochte es nicht, die Geschichte eines Helden zu erzählen. Die Risiken der Partitur – von der fortwährenden Selbstreferenz des Komponisten bis hin zur bissigen Satire seiner Widersacher und den aufbrausenden Rufen zur Schlacht – erklangen unter Petrenkos Leitung doch arg geglättet und gleichförmig.
Richard Strauss galt zu seiner Zeit als Neutöner und hat besonders in dieser Tondichtung immer wieder den Mut zur Hässlichkeit bewiesen. Für einen Dirigenten ist es somit essenziell, auf dem Weg zur Wiederherstellung des Friedens, auch die Ecken und Kanten der Partitur zu betonen: Die fortwährende Doppelbödigkeit muss die Zuhörerschaft überraschen und aufwühlen. Von Petrenko hätte dies auch mal ein Loslassen erfordert. Sein auf Hochglanz poliertes und vor Brillanz nur so strotzendes Heldenleben geriet zur höchsten Künstlichkeit. Es imponierte zutiefst – und fühlte sich dabei doch etwas Leer an.
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Alte Oper Frankfurt
- Titelfoto: Alte Oper Frankfurt/Berliner Philharmoniker, K. Petrenko/Konzert am 7.11.23/Foto © Monika Rittershaus