Einmal mehr reibt man sich verwundert die Augen (und vor allem die Ohren) und fragt sich, warum ein so fabelhaft komponiertes Meisterwerk wie eben Zandonais FRANCESCA DA RIMINI seltener (also praktisch nie …) aufgeführt wird als Repertoirerenner wie TOSCA, IL TROVATORE oder andere, ja sogar seltener als PÉLLÉAS ET MÉLISANDE auf den Spielplänen auftaucht, obwohl Zandonai in seiner Tonsprache den Impressionismus Debussys mit einem Hauch von italienischem Verismo effektvoll auflud, lange Melodiebögen aus der Tradition Bellinis gekonnt integrierte und ein grandioses, durchkomponiertes Musikdrama schuf, das doch eigentlich viel leichter zugänglich ist als eben Debussys um ein ähnliches Thema kreisendes Werk.
Deshalb kann man der Deutschen Oper Berlin nur gratulieren und dankbar sein, dass sie trotz der leider immer noch (meines Erachtens grundlos) geschlossenen Opernhäuser diese Neuproduktion mittels eines Livestreams der Premiere einem weltweiten Publikum zugänglich machte. Da die Mitwirkenden täglich auf Corona getestet wurden, entstand auch eine richtige Inszenierung, mit Nähe, mit Sex und Küssen, Gewalt und Brutalität, exzessiver Körperlichkeit, eine Inszenierung aus Fleisch und Blut, die einen mitten in die Qualen einer zwangsverheirateten Frau führte und deren revolutionärem Streben nach Glück und sexueller Erfüllung.
Sara Jakubiak (die gefeierte Heliane in Korngolds DAS WUNDER DER HELIANE an diesem Haus) war diese Frau. Sie bringt alles mit für die Interpretation dieser schwierigen, immens grossen Rolle: Eine wunderbar ansprechende Stimme mit wunderschöner Mittellage, mit aufblühender und nie übermässigem Druck unterworfener Höhe, eine blendende Erscheinung und ein berührendes, mitreissendes darstellerisches Gespür. Sie ist nicht nur femme fatale, vor der die drei Malatesta Brüder quasi zu Sexsklaven werden, nein sie ist mehr: Sie kitzelt aus allen drei Brüdern tiefgründige Charaktereigenschaften hervor, aber sie stellt genauso ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche ins Zentrum ihres Handelns, sie ist zweifellos nicht bloss Opfer patriarchaler Gewalt, intriganten Betrugs oder rasender Eifersucht, sondern trägt selbstbestimmt zur bewussten Eskalation bei. Kein Wunder, dass Gabriele D’Annunzios Drama, das als Vorlage der Oper diente, zum Skandal wurde. Dem Regisseur Christof Loy ist nun eine bezwingende Umsetzung gelungen. Er erzählt die Geschichte ohne unnötigen Schnickschnack, direkt, ohne unverständliche Anspielungen, so dass man dem Geschehen (auch am Bildschirm) gespannt und aufmerksam, ja geradezu fasziniert folgt. Johannes Leiacker hat einen schönen Einheitsbühnenraum geschaffen, einen Saal in einer repräsentativen Villa, mit Ausblick aus dem grossen Fenster auf eine (unerreichbare?) romantisch-schöne Landschaft mit verstecktem Pavillon, die Kopie eines Gemäldes von Claude Lorrain. Die drei Stufen zum Fenster bieten eine sehr geeignete Spielfläche für die Protagonisten und die Komparsen (der Chor wurde aus dem Probesaal zugeschaltet, pandemiebedingt). Auffallend sind die Blumentapete und die vielen Blumen, welche die Freundinnen Francescas im ersten Akt verstreuen und die der wunderschön üppig und duftend instrumentierten Oper ein optisches Parfüm verleihen, einen Gegenpol zur Brutalität der Handlung setzen. Geschmackvoll sind die Kostüme von Klaus Bruhns gehalten, schlicht, aber sehr elegant, mit Anspielungen an den aufkommenden Faschismus in Italien, für welchen der Schöpfer der Vorlage, Gabriele D’Annunzio, durchaus ideell den Boden bereitet hatte. Christof Loys Verdienst liegt auch in der sehr genauen Charakterzeichnung der Personen. Mit grosser Feinfühligkeit und Differenziertheit zeichnet er die drei so unterschiedlichen Brüder Malatesta: Den schönen Paolo (Jonathan Tetelman), den missgestalteten, äusserlich brutalen aber doch irgendwie empfindsamen Gianciotto (Ivan Inverardi) und den sadistischen, infantilen Malatestino (Charles Workman). Neben den intensiven Darstellungskünsten der drei waren sie auch stimmlich grandios: Jonathan Tetelman als Paolo begeisterte mit seinem strahlenden, differenziert eingesetzten Tenor als schmachtender Liebhaber und Schönling, Ivan Inverardi kam seine immense Rollenerfahrung als Scarpia in Puccinis TOSCA sicherlich zu gute, er füllte die Rolle des Gianciotto mit rauer Gewalt gegenüber Gegnern und beinahe schleimiger Devotheit gegenüber seiner Gemahlin Francesca. Charles Workman schliesslich war ein beinahe bedauernswert unreifer, seine sadistischen Neigungen auslebender Malatestino und machte mit seiner angenehm weichen, biegsamen Tenorstimme die seelischen Qualen des kleinen – einäugigen – Bruders offenbar. Ganz wunderbar fügten sich die restlichen Frauenstimmen in das fantastische Klangbild ein: Alexandra Hutten als warnende Schwester Samaritana, die vier Freundinnen Francescas, angeführt vom hellen, wunderschön intonierenden Sopran von Meechot Merrero und mit den schönen Stimmen von Mané Galoyan, Arianna Manganello und KarisTucker. Amira Elmadfa war eine Sklavin Smaragdi mit grosser Bühnenpräsenz und warmer Stimme und Andrew Dickinson verlieh dem dubiosen Notar Ser Toldo Berardengo die notwendigen intriganten Züge, zusammen mit dem ebenfalls charakterlich nicht über alle Zweifel erhabenen Bruder Francescos, Ostasio, dem Samuel Dale Johnson gekonnt das unsympathische Profil verlieh.
Einen überzeugenden Kniff wandte Christof Loy an, mit der der Oper eine Klammer gebenden Interpretation des Spielmanns (Narr – Il Giullare), der eigentlich nur die Eröffnungsszene bestereitet mit seinem orakelhaften Vortrag der tragischen Liebe von Tristan und Isolde und deshalb von Ostasio und seinen Schergen (die hübschen, aber brutalen Jünglinge in smarten, dunklen Anzügen dürfen in kaum einer Loy-Inszenierung fehlen …) blutig geschlagen wird. Fortan ist dieser Narr dauerhaft auf der Bühne präsent, zuerst natürlich blutüberströmt nach seiner Folter, dann sich immer mehr vom Jeansträger zum mittelalterlichen Troubadour wandelnd und am Ende als einziger vor dem Fenster in der romantischen Kulisse wandelnd. Dean Murphy singt und spielt die Rolle überaus einnehmend.
Carlo Rizzi am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin bringt die überwältigenden Sinneseindrücke aus Zandonais reichhaltiger und finessenreichen Partitur mit betörender Sogwirkung zum Erklingen, nie überladen oder allzu schwülstig und doch die Effekte voll auskostend. Das Orchester glänzt mit Kraft in der Emphase und Subtilität in den (vielen!) kammermusikalischen Passagen.
Fazit: Eine Oper (und eine Aufführung) mit Suchtpotential! Hoffentlich bald wieder zusammen mit einem enthusiastischen Live-Publikum geniessbar!
Inhalt:
Francesca wird aus politischen Gründen zur Heirat mit dem verkrüppelten Gianciotto Malatesta gezwungen. Dessen schöner Bruder Paolo kommt als Abgesandter der Familie Malatesta nach Ravenna um die Brautwerbung zu überbringen. Dabei verlieben sich die beiden ineinander. Doch die Eheschliessung mit Gianciotto findet trotzdem statt.
Sie begeht den Ehebruch mit Paolo, wird jedoch vom dritten Bruder, dem einäugigen Malatestino, dabei beobachtet, erpresst und – da sie ihm nicht gefügig ist – denunziert. Gianciotto überrascht die beiden Liebenden in flagranti und stürzt sich mit dem Schwert auf den unbewaffneten Paolo. Francesca wirft sich dazwischen und wird tödlich getroffen. Paolo hält die Sterbende in seinen Armen und fällt unter dem Schwert seines Bruders.
Musikalische Höhepunkte:
Interessanter Kontrast zwischen den eher lyrisch impressionistisch angehauchten Akten 1 und 3 und den kriegerisch brutalen Akten 2 und 4.
Liebesduette in den Akten 3 und 4, Auftritt Francescas in Akt 1 (mit Damenchor, erinnert an „Butterfly“)
Auseinandersetzung Gianciotto-Malatestina in Akt 4
Werk:
Der italienische Komponist Riccardo Zandonai (1883-1944) war ein Schüler Pietro Mascagnis. Sein Kompositionsstil weist daher starke Bezüge zum italienischen Verismo auf, erweitert mit seiner impressionistischen Klangsprache diesen jedoch auf faszinierende Art zu einer betörenden klanglichen Sogwirkung. Als Opernkomponist war er sehr erfolgreich, wurde von einigen Kennern höher gehandelt als z.B. Puccini. Insbesondere FRANCESCA DA RIMINI geriet zu einem Welterfolg. Leider gerieten seine Werke nach seinem Tod mehrheitlich in Vergessenheit, einzig die FRANCESCA taucht vereinzelt auf den Spielplänen auf. Die anspruchsvolle Titelrolle wurde ab den 1950er Jahren von so grossartigen Sopranistinnen wie Maria Caniglia, Magdo Olivero, Renata Scotto, Leyla Gencer und Raina Kabaivanska und in neuerer Zeit u.a. von Daniela Dessi, Emily Magee (in Zürich) und Saioa Hernandez (in Strassburg) interpretiert – und trotz jeweils begeisterter Publikumsreaktionen konnte sich die Oper leider nicht wieder im Standardrepertoire etablieren. Es bleibt zu hoffen, dass sich das bald ändern wird, die reichhaltige Partitur hätte es mehr als verdient.
- Gastkommentar von Kaspar Sannemann (Oper-aktuell)
- Deutsche Oper Berlin / Stückeseite
- Titelfoto: DOB/FRANCESCA DA RIMINI/Foto @ Monika Rittershaus