Dass es im Krieg keine Gewinner gibt, machen uns besonders die Schlagzeilen der letzten Monate immer wieder deutlich, wenn Krieg und Leid nicht mehr die Probleme der anderen Seite des Erdballs sind, sondern immer näher rücken und uns derzeit auch in Europa bestürzen. Die Regisseurin Lydia Steier spricht von einer „kollektiven Verwundung“ und so scheint der Topos des Kriegs ihrer Neuinszenierung von Verdis Aida hinter jeder Ecke zu lauern, aus jeder Ritze zu kriechen und von allen Charakteren unausweichlich mit der Atemluft aufgesogen zu werden. (Besuchte Vorstellung am 21.12.2023)
In einem unterirdischen Bunker, der kein Tageslicht zulässt, fristen die Ägypter ein luxuriöses, wenn auch klägliches Dasein. Trotz des Triumphs über die feindlichen Äthiopier nagt diese scheinheilige Kriegsverherrlichung heftig an den Menschen, frisst sie gar innerlich auf. Pflichterfüllung und Kriegsermüdung ersetzten längst die anfängliche Euphorie. Die Kriegstreiber sind überaltert, sie schicken die jungen, teils Kinder, in die Gefechte. Was schert sie der Verbleib eines Landes, in dem sie keine Zukunft haben? In dieser Welt wirken der unbedarfte Radamès, vom Hausmeister zum ägyptischen Feldherr berufen, und die Sklavin Aida, passiv und entrechtet, geradezu hineingeworfen. In ihrer schier unbrechbaren Liebe zueinander wirken sie wie ein fehlplatzierter, letzter Hoffnungsschimmer. Der Krieg wird auch sie fressen.
In der Titelpartie berührte Ekaterina Sannikova mit zarter, sinnlicher Sopranstimme in behutsamer Phrasierung. Sie charakterisierte ihre Rolle als verletzliche, sich immer wieder ermutigende Außenseiterin. Auch Stefano La Colla überzeugte als Radamès mit warmen Spinto-Tenor und klangfarbenreicher Gestaltungskunst. Besonders in den mittleren Registern bewies er Durchschlagskraft und konnte so die Beklemmung und Furcht des Feldherrn wider Willen spürbar werden lassen.
Die Visionen und Ängste des Oberpriesters Ramfis bilden hier als immer wieder auftauchendes Bild ein Psychogramm eines Menschen, einem nervlichen Wrack, der nur von starken Medikamenten zusammengehalten wird, zu lange in den Abgrund gestarrt hat und dieser nun zurückblickt. Immer wieder sieht er Todesboten, zwei Aasgeier, die weitere Opfer einfordern. Er stimmt sie gnädig, um weiterhin in der Gunst der Götter zu stehen. Doch ob diese Visionen nur Ausgeburten seines nagenden Gewissens oder Effekt seines Drogenkonsums sind, ist fast egal. Andreas Bauer Kanabas spielt Ramfis mit packender Eindringlichkeit und beweist sich mit warmer, intensiver, wie ergreifender Stimme als Verdi-Bass par excellence.
Steiers Bildsprache changiert zwischen Horror und Groteske – mit einem angsteinflößenden Clown, der die gefangenen Äthiopier herein- und vorführt, dutzenden aufwendig frisierten Perücken im Gemach von Amneris (mit schillerndem Mezzosopran, von einer ebenso mondänen wie grausamen Claudia Mahnke vortrefflich dargestellt) und einer dekadenten, apokalyptischen Partygesellschaft, die feuchtfröhlich feiert, während der Bombenhagel den Putz von der Decke rieseln lässt. Während diese Szenen bei so manchen im Publikum bitter aufstoßen, sind es genau solche Bilder, mit denen Steier das Publikum zu schütteln, wachzurütteln versucht. Wegsehen ist keine Option und als sich der Vorhang für ein paar Minuten schließt und man lautstark anhören muss, wie so ein Krieg klingt (Explosionen, abstürzende Flugzeuge, Maschinengewehre), wird der Abend auch für das Publikum zum immersiven Erlebnis, dem es nicht entkommen kann.
Lydia Steier ist als Regisseurin vertraut mit sowohl großen als auch kleinen Bühnen. So inszeniert sie in die Massenszenen viele kleine Details, die es in sich haben, sich aber zu einem durchdringenden Ganzen zusammenfügen, das zwar aufgeht, einem aber bitter im Hals stecken bleibt.
Bei solch einem szenischen Horror vacui kann die Musik schnell Gefahr laufen, in den Hintergrund gedrängt zu werden. Im Orchestergraben verwandelte der amerikanische Dirigent Erik Nielsen die düster-trostlosen Farben des Bühnenbilds von Katharina Schlipf in eine der Inszenierungsästhetik zweckdienlich abgeklärte Verdi-Klangsprache. Besonders das dunkle Blech hervorhebend, die Kantilenen der Holzbläser matt-seufzendes Trübsal versprühend, antizipierte der ehemalige Kapellmeister der Oper Frankfurt das Musikdrama von seinem tragisch-düsteren Ende. In dieser Aida schien niemand mehr zum Kämpfen bereit zu sein. Folgerichten negierte Nielsen in den ausdrucksstarken Schlachtrufen „Guerra“ und selbst im feurigen Triumphmarsch das Heroische des Werks. Mehr das Lamento betonend und eben nicht in die Dramatik des Kriegsgeheuls einsteigend, fand der Dirigent in schwerfälligen Tempi einen klagenden Zugang zum Werk Verdis. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester versprühte in dieser Lesart eine sonderbare Melancholie: Die allgegenwärtige Verzweiflung einer nicht abwendbaren Pflichterfüllung des kriegsgebeutelten Volkes wurde so besonders erlebbar. Und obgleich sich Nielsens musikalische Interpretation dem Regiekonzept Lydia Steiers zu fügen vermochte, geriet sein monochromer und bedächtiger Orchesterklang stellenweise allzu gleichförmig. Insbesondere die farblichen Nuancierungen der kammermusikalischen Momenten der Partitur kamen über die dreistündige Aufführungsdauer lediglich unzureichend zu Geltung. Der von Tilman Michael einstudierte Chor erklang hingegen kraftvoll und in seinen Klangstufen vielschichtig schattiert.
Die Aufführungsgeschichte von Aida ist in Frankfurt eine ganz besondere. Über 40 Jahre hat man gewartet, bis man sich nach der Frankfurter Skandal-Aida aus dem Jahre 1981 in der Regie von Hans Neuenfels endlich wieder an das Werk herangewagt hat. Doch so lang auf eine Neuinszenierung warten zu müssen hat sich gelohnt, denn mit Lydia Steier hat die Oper Frankfurt eine Regisseurin gefunden, die ebenso polarisierende, wenn auch andersartig einprägsame Bilder für dieses monumentale Werk Verdis gefunden hat.
(Anm.d.Red.: Alle Fotos von der Premiere v. 3.12.23)
- Rezension von Alexandra Richter und Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Frankfurt / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Frankfurt/AIDA/Foto: Barbara Aumüller